Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Töchter des Schweigens

Töchter des Schweigens

Titel: Töchter des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: barcelo
Vom Netzwerk:
eine Spur zu hinterlassen?
    Am liebsten wäre sie aus dem Haus gegangen und hätte die Tür hinter sich geschlossen, für immer, um nie mehr wiederzukommen. Alles niederbrennen. Vergessen. Von vorn anfangen.
    Sie hob den Kopf, und der große goldgerahmte Spiegel zeigte ihr das Bild einer Frau mit wächserner Haut und ungepflegtem Haar in abgetragenen Trainingshosen und einem Trägerhemd von undefinierbarer Farbe. Das Bild einer alten Frau. Einer alten Schnapsdrossel, korrigierte sie sich. Das bist du jetzt, Carmen, mach dir nichts vor; du bist eine alte Schnapsdrossel geworden, und es wird immer schlimmer. Du weißt, dass es immer schlimmer wird. Von vorn anfangen! Weggehen! Hör doch auf! Wo willst du denn hin in deinem Alter und so, wie du aussiehst? Wohin, du dämliche Kuh? Das hier ist alles, was du hast: dieses Haus, der Laden, der dich ernährt, die paar Freundinnen, die dir noch geblieben sind, deine Töchter, die ihr eigenes Leben leben, der Trottel Felipe. Wenn du das alles aufgibst, was dann? Du hast nicht einmal eine Ausbildung, nicht das armseligste Diplom, keinerlei Berufserfahrung und nicht genug Geld, um auf alles andere verzichten zu können.
    Könnte es das sein, was Lena passiert war? Ob sie auch gemerkt hatte, dass sie am Ende ihrer Träume angelangt war?
    Sie nahm das Handy und wählte Felipes Nummer. Der Anruf wurde sofort weggedrückt. Wahrscheinlich hatte sie ihn in einem Moment erwischt, in dem er nicht ans Telefon gehen konnte, aber sie war es leid, dass immer er entschied, wann sie miteinander reden konnten, und so versuchte sie es wieder und wieder, bis sie seine Stimme hörte.
    »Ach, hallo, Carlos!«, hörte sie ihn sagen, damit seine Kollegen nicht mitbekamen, dass sie es war. »Warte einen Moment, ich kann dich schlecht verstehen. Einen Moment, ich gehe vor die Tür, vielleicht ist die Verbindung da besser.«
    Es vergingen einige Sekunden, bis sie ihn wieder hörte.
    »Hast du sie noch alle, Carmen? Habe ich dir nicht gesagt, du sollst mich nicht in der Bank anrufen?«
    »Ich rufe dich auf dem Handy an.«
    »Ja, aber während der Arbeitszeit. Hier ist alles voller Kunden, Kollegen … meine Frau arbeitet am Nebentisch, Herrgott, als ob du das nicht wüsstest … Also, was willst du?«
    Carmen schluckte.
    »Nichts. Mit dir reden.«
    Sie hörte ein gereiztes Schnauben.
    »Lass uns ein andermal reden. Jetzt geht es beim besten Willen nicht. Warum machst du dich nicht schön, das kannst du doch so gut, und schaust zur Abwechslung mal im Laden vorbei? Wenn du mehr zu tun hättest, müsstest du mich nicht um diese Zeit anrufen.«
    Carmen unterbrach die Verbindung, ohne sich zu verabschieden, streckte ihrem Spiegelbild die Zunge heraus, schlenderte den Flur entlang und strich im Vorübergehen wahllos über einzelne Gegenstände: ein Gobelin-Bildchen, das ihr ihre Mutter geschenkt hatte, eine riesige Karaffe aus Muranoglas, in die sie sich auf einem Jahrmarkt verliebt hatte, eine Holzgiraffe, fast so groß wie sie selbst, ein mexikanisches Gemälde auf Amate-Papier, eine Stahlskulptur, die ihr nie gefallen hatte, die sie aber auch nie wegwerfen mochte, nicht einmal, nachdem der Schöpfer aus ihrem Leben verschwunden war …, Sachen, Sachen, Sachen, da hortet man ein Leben lang Sachen für schlechte Zeiten, wie die Eichhörnchen Nüsse für den Winter. Und am Ende sind die Sachen völlig nutzlos, weder füllen sie die Leere, noch lösen sie die Beklemmung.
    Im Bad war alles sauber und ordentlich. Gladys, das Mädchen aus Ecuador, war eine Perle und wusste, wie sie es haben wollte.
    Die monumentale elfenbeinfarbene Wanne hatte eine Ablage aus Teakholz mit vielen Kerzen unterschiedlicher Größe und einem Sortiment von duftenden Badesalzen: Rose, Jasmin, Sandel, Mimose, Bitterorange. In der Schublade lagen das Nackenpolster und die Gelmaske. Im Schrank die Cremes, Parfüms und Handtücher.
    Sie stellte sich die Badewanne voll mit lauwarmem, nach Mimosen riechendem Wasser vor, ihren Kopf auf dem Polster, die Augen bedeckt von der Gelmaske, die offenen Pulsadern, aus denen es sprudelte, sanft, ohne Eile, während alles um sie versank.
    Sie setzte sich auf den Rand und drehte die Hähne auf. Dann zog sie sich aus, las ihre Kleider auf und stopfte sie in den Wäschekorb, nahm eine Rasierklinge aus dem Schrank und betrachtete sie, geblendet vom Glanz des Stahls, von seiner Kälte, bis ihre Hand zu zittern begann.
    Sie ließ die Klinge fallen, verließ das Badezimmer, griff zum Handy und wählte eine

Weitere Kostenlose Bücher