Töchter des Schweigens
Gartenlaube. Jeder Vorübergehende kann sie sehen, wie sie dort einander gegenübersitzen; sie liest laut vor oder übersetzt das Gelesene; er nippt an seiner heißen Schokolade oder Limonade, je nach Jahreszeit, nickt ihr zu oder verbessert ihre Fehler. Als ob nie etwas geschehen wäre, als ob diese Gorillahände nie über ihren Kinderkörper gefahren wären, im Musikzimmer auf dem olivgrünen Satinsofa.
Bei der Erinnerung an das Sofa wird ihr speiübel, und sie versucht den Gedanken abzuschütteln, indem sie sich stattdessen eine leuchtend helle Zukunft vorstellt, die bald beginnen wird, die eigentlich schon in diesem Augenblick und in ebendiesem Hotelzimmer beginnt, denn jetzt haben sie die Schule hinter sich, und im September werden sie in Valencia sein.
Auch Tere denkt an Valencia, allerdings hat sie andere Bilder vor Augen als Sole im Nachbarbett. Denn Tere ist in Panik, auch wenn das niemand weiß. Tere hat solche Angst, dass sie sich manchmal im Bad einschließen und minutenlang stumme Schreie ausstoßen muss, bis sie ihre Fassung zurückgewonnen hat und mit der heiteren Miene, die alle an ihr kennen, wieder hinaus zu den anderen gehen kann.
Sie liegt auf dem Rücken, starrt mit offenen Augen ins Halbdunkel, legt die Hände auf ihren flachen, warmen Bauch und versucht zu spüren, was darin heranwächst und bald verschwinden wird, wenn alles nach Plan läuft. Sobald sie nach dieser Ferienwoche nach Hause kommt, wird sie von Tante Práxedes erwartet, einer alten Hebamme und guten Freundin von Tante Angustias, der Heilerin, zu der ihre Mutter mit allen Beschwerden geht, seit sie in Elda wohnen, einer klugen und liebevollen Frau, die durch Handauflegen und mit Kräutern heilt und sofort erkannt hat, was mit ihr los ist, aber so rücksichtsvoll war, sie beiseitezunehmen, um sie zu fragen, was sie jetzt tun wolle.
»Dieses Mädchen ist sehr schnell gewachsen«, sagte sie zu ihrer Mutter, »und sie arbeitet zu viel. Darf ich sie mir mal anschauen?«
Als sie allein waren – Tante Angustias sprach immer allein mit den Kranken –, sah sie sie an und sagte: »Wenn du es bekommen willst, hast du meinen Segen. Wenn nicht, müssen wir uns beeilen.« Tere brach in Tränen aus. Vor Erleichterung. Einfach, weil es eine Alternative gab.
»Ich kann es nicht bekommen, Tante Angustias. Ich will in Valencia studieren. Wenn ich es bekomme, kann ich nicht auf die Universität und werde mein Leben lang eine ledige Mutter bleiben. Es wäre ein uneheliches Kind. Und aus mir würde nie eine Ärztin.«
»Will er nicht heiraten?«
Sie schüttelte den Kopf, ohne sich weiter dazu zu äußern.
»Dann rufe ich Práxedes an. Es wird wehtun, aber du bist noch sehr jung. Ich glaube nicht, dass es lebensgefährlich sein wird. Für alle Fälle gebe ich dir ein paar Kräuter, die du jetzt schon einnehmen solltest. Sie entspannen die Gebärmutter, und vielleicht geht es sogar von allein ab.«
Aber es war nicht von allein abgegangen, auch wenn sie ein paarmal leichte Blutungen hatte, und so wird sie gleich nach ihrer Rückkehr nach Elda zu Tante Práxedes gehen, sich auf ihren Küchentisch legen, die Beine spreizen und sich Dinge gefallen lassen müssen, an die sie lieber nicht denken will.
Niemand weiß davon, außer ihm, der zwar versprochen hat, ihr das Geld zu geben, aber seit über einer Woche nicht mit ihr redet, nicht einmal in der Öffentlichkeit.
Sie hatte ihn vor zwei Tagen angerufen und das Telefonkabel so lang wie möglich gezogen, um sich in die Flurecke verkriechen zu können, damit niemand das Gespräch mitanhörte; aber mit der Mutter in der Küche, nur ein paar Schritte entfernt, dem Vater im Wohnzimmer und den vier Geschwistern, die ständig zwischen dem Bad und ihren Zimmern hin und her liefen, hatte sie kaum fünf Minuten telefonieren können und sämtliche Umschreibungen angewandt, die ihr einfielen. Und ihm musste es ähnlich ergangen sein, weil er so einsilbig antwortete, dass sie förmlich sehen konnte, wie er immer erst einen Blick über die Schulter warf, ehe er den Mund aufmachte. Doch sie hatte ihn nicht überzeugen können, sich mit ihr zu treffen, um alles in Ruhe zu besprechen. »Im Moment passt es mir ganz schlecht«, hatte er gesagt. Im Moment. Als ob es für das, was ihr passierte, einen passenden Moment geben könnte.
»Tere, bist du wach?«, flüstert Ana von dem Extrabett aus, in dem sie beschlossen haben, abwechselnd zu schlafen, weil sie wissen, dass Sole ein Bett für sich allein braucht und
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