Töchter des Schweigens
obwohl die Jungfräulichkeit allmählich auf ihr lastet wie eine nasse Wolldecke, weil sie Männer mag, auch wenn viele von ihnen echte Schweine sind. Sie mag es, wenn Männer sie anschauen, mit ihr scherzen und dabei so glänzende Augen bekommen, dass man ihnen deutlich ansieht, was sie denken, was sie am liebsten tun würden, wenn sie dürften. Sie trägt gern Miniröcke und steigt die Treppe in der Schule hoch, ohne mit beiden Händen den Saum zusammenzuhalten, wie ihre Mutter es ihr gezeigt hat, weil sie den Jungs eine kleine Freude machen will, wenn diese von unten heraufstarren und glauben, zwischen ihren Schenkeln das Weiß der Unterwäsche blitzen zu sehen.
Oft hat sie Blutergüsse an den Beinen, weil sich ihr Vater, wenn er in Rage gerät, dort weniger zurückhält. Aber das ist nicht weiter schlimm, schließlich spielt sie in der Handballmannschaft, deren Mitglieder meistens überall blaue Flecken haben, weshalb niemand auf die Idee käme, die ihren könnten nicht nur vom Sport stammen. Wenigstens schlägt er weder ihre Schwester noch sie jemals ins Gesicht. Bei ihrer Mutter ist das etwas anderes, aber das geht sie nichts an. Und jetzt wird sie eine Woche lang von niemandem Prügel beziehen. Sie wird nicht aufpassen müssen, was sie sagt, was sie tut, was sie anzieht, wie viel Lidschatten sie sich erlauben kann. Morgen treffen sie sich mit den Jungs zu einem gemeinsamen Ausflug über die Insel, und abends werden sie in eine richtige Diskothek gehen, voller Leute aus aller Herren Länder, mit der besten englischen Musik und blonden, hochgewachsenen Ausländern wie denen, die sie heute im Speisesaal gesehen hat.
Carmen streckt sich im Bett aus, rollt sich auf die Seite, umfasst mit der rechten Hand ihre linke Brust und schläft ein.
Marga und Candela im oberen Zimmer schlafen bereits. Sie haben noch eine Weile auf der Terrasse verbracht, ein paar Zigaretten geraucht und den Schein des zunehmenden Mondes auf dem Meer betrachtet. Fast trunken vor Glück, weil sie zusammen sind, weil sie in einem traumhaften Zimmer mit eigener Terrasse miteinander allein sein können, haben sie dem Raunen der Palmen und dem Plätschern der Wellen gegen den Felsvorsprung zu ihrer Linken gelauscht. Sie haben sich erwachsen, mondän, frei gefühlt, als ob sie jetzt, nachdem sie viele Jahre lang nur Töchter und Enkelinnen waren, endlich sie selbst sein dürften, in einer ihrer neuen Eigenständigkeit angemessenen Umgebung.
Candela hat Marga den Arm um die Taille gelegt und es gewagt, ihren Hals, ihren Nacken sanft zu küssen, während Marga wohlige Schauder überrieselten. Doch Candela ist vorsichtig und zärtlich gewesen; sie hat nichts überstürzt, denn sie weiß, dass sie noch viele Tage vor sich haben und Marga Zeit braucht.
Also haben sie sich die Zähne geputzt, kichernd die Nachthemden übergestreift, das Licht gelöscht, gute Nacht gesagt und, jede von ihrem Bett aus, den bebenden weichen Schatten an der Zimmerdecke zugesehen.
Reme, allein in ihrem Zimmer, ist sofort eingeschlafen, so glücklich wie noch nie in ihrem Leben. Nie hat sie eine wirklich gute Freundin gehabt oder einer festen Clique angehört wie die anderen, aber sie ist nicht neidisch auf das Lachen und Lärmen aus den umliegenden Zimmern, denn sie hat bekommen, was sie wollte: ein eigenes Zimmer, nachdem sie ihres ein Leben lang mit ihren drei Schwestern hat teilen müssen. Jetzt ist sie achtzehn, und da weder sicher ist, ob man ihr das Stipendium gewährt, noch, ob ihre Eltern sie in Valencia studieren lassen, muss sie diese Woche der Unabhängigkeit nutzen, um zu erreichen, wovon sie schon so lange träumt: endlich ihre verdammte Unschuld zu verlieren. Das plant sie schon, seitdem die Abiturfahrt im Gespräch ist, und jetzt, da sie ein Einzelzimmer ergattert hat, gedenkt sie die Gelegenheit beim Schopf zu fassen, sobald sie einen Jungen findet, der ihr attraktiv erscheint, älter ist als sie und Ausländer. Letzteres ist wichtig, weil sie sich vorerst noch nicht binden will. Es erscheint ihr albern, mit dem Sex zu warten, bis sie sich verliebt. Sie ist schon lange der Überzeugung, dass Sex nicht unbedingt mit Liebe zu tun hat, trotz allem, was Don Javier und sämtliche Priester sagen mögen, die ihm als Religionslehrer vorangegangen sind. Im Lauf der Jahre hat man ihnen beigebracht, Gleichungen zu lösen, perspektivisch zu zeichnen, Griechisch und Latein zu übersetzen, tausend Dinge, die für das Leben vollkommen nutzlos sind. Man hat sie sogar
Weitere Kostenlose Bücher