Tödliche Ernte
zurückkommen. Ich hätte sie sehr gern zurück, Mr Blessing. Sehr gern.«
Tränen quollen aus Blessings Augen. »Ich konnte mich nicht mal von meinem Kind verabschieden. Nicht mal das.«
»Dann tun Sie es jetzt«, warf ich ein. »Das wird Ihnen helfen. Ganz sicher.«
»Ja klar«, sagte Blessing. »Hier sitzen doch alle nur rum und winseln.«
»Wie es sich anhört, sind Sie der Einzige, der winselt«, warf Miss Jones ein.
»Sie haben doch keine Ahnung«, sagte er.
»Ach wirklich?« Jones stakste zu Blessing hinüber, den sie um mehr als zehn Zentimeter überragte. »Solche wie Sie kenne ich zur Genüge. Ihr macht doch immer nur Probleme. Arschloch.«
»Wer ist hier das Arschloch, du Schlampe?«, brüllte er.
Ich ging dazwischen. »Aufhören! Wir versuchen, hier zu arbeiten.« Ich sah von Gesicht zu Gesicht.
Anspannung lag in der Luft.
Miss Jones zwinkerte mir zu und schlenderte zu ihrem Platz zurück. Oh Gott, Jones ist meine alte Freundin Chesa!
Blessing wollte ihr hinterher.
Ich packte ihn an der Schulter. »Hören Sie auf!«
Er ballte die Hand zur Faust. Sie fing an zu zittern. Sein Gesicht entspannte sich, während die Faust immer stärker zitterte.
»Roland«, sagte ich. »Warum machen wir nicht …«
Sein Arm fiel herunter. »Ich höre ja auf. Vorläufig.« Er wollte zur Tür.
»Bleiben Sie«, bat ich. »Wir sollten mehr über Moira nachdenken.«
Der verwirrte Blick, mit dem er die Gruppe streifte, fiel schließlich auf mich. »Ich denke doch sowieso nur an sie.«
»Das kauf ich ihm nicht ab«, sagte Chesa Jones.
Blessing zeigte ihr den Mittelfinger. »Fick dich!« Er knallte die Tür zu.
»Das hätten Sie nicht tun sollen, Miss Jones.« Ich stürzte Roland Blessing hinterher.
»Mr Blessing! Roland!«
Er blieb abrupt an der Seitentür stehen. Die Arme ruderten, sein Blick war wild. »Wo sind ihre Hände? Ich will ihre Hände zurück. Ich muss meine Kleine einfach halten.« Er schluchzte.
Ich wollte ihn an mich ziehen.
Er blickte mir forschend ins Gesicht. Ich sah die Hoffnung auf seinem und auch das schreckliche Unglück. »Roland.«
Er schob meine Arme beiseite. »Sie können mir nicht helfen. Nein, das können Sie nicht.«
Die Tür knallte zu, und ich blieb mit einem Kummer zurück, der mir vertrauter war als das Atmen.
2
Als ich zurück ins Zimmer kam, kreuzte ich Chesas Blick und lächelte sie an. Sie zuckte die Achseln. Ich sehnte mich danach, mit ihr zu reden, doch wir mussten erst das Gruppentreffen beenden, was wir auch taten.
Doch kaum war das Treffen vorbei, war sie auch schon verschwunden. Als ich sie nicht mehr sah, schleppte ich mich zurück ins Büro. Ich rechnete damit, dass sie wusste, wo ich zu finden war. Erschöpft setzte ich mich aufs Sofa. Penny rollte sich neben mir zusammen und schlief sofort ein.
Ich hatte geglaubt, letzte Woche Zugang zu Blessing ge-funden zu haben, trotz seiner Wut. Da hatte ich mich wohl geirrt.
Ich versuchte, ihn telefonisch zu erreichen, hatte aber kein Glück.
Verdammt, wo war Chesa? Und was war mit ihrer Schwester geschehen?
So wie dieser Vormittag verliefen viele Tage für mich hier im Kummerladen – so nenne ich die Rechts- oder auch Gerichtsmedizin. Viele Menschen halten es für gruselig, in der Gerichtsmedizin zu arbeiten. Vielleicht haben sie ja recht. Oder auch nicht. Das hängt davon ab, wie man die Welt sieht.
Der Kummerladen hat seinen Sitz in Boston. Dazu gehört neben dem Verwaltungstrakt natürlich auch das ganze Tagesgeschäft der Leichenbeschauer von Massachusetts.
Wir residieren in der Albany Street in einem unauffälligen, dreigeschossigen Ziegelgebäude, das ganz im Schatten anderer medizinischer Einrichtungen wie dem Boston City Hospital steht.
Im Kummerladen sind Pathologen, ein forensischer Anthropologe, die Verwaltung und eine für die Spurensicherung zuständige Eliteeinheit der State Police untergebracht, genauso wie die Leiterin der Rechtsmedizin, Dr. Veda Barrow, die zufällig auch meine Pflegemutter ist.
Im Gebäude befinden sich eine hochmoderne Einrichtung für forensische Pathologie, drei Seziersäle, zwei Kühlräume, ein Raum für die Proben der Spurensicherung und speziell eingerichtete Räumlichkeiten zur Familienberatung und Identifikation menschlicher Überreste. Letztere gehörten in meinen Zuständigkeitsbereich als Leiterin des Massachusetts Grief Assistance Programs, kurz mgap , einer Organisation für Trauerarbeit.
Als das mgap in den Kummerladen einzog, mussten das Fotolabor der
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