Tödliche Jagd
Nacht. Ich blieb einen Monat dort, aber dann hatte
ich den Londoner Trubel gründlich satt. Ich sehnte mich
zurück nach der Einsamkeit, den Vögeln, den Marschen, nach
meinem Häuschen, in das ich mich verkriechen konnte. Sie
kündigte bei der Werbeagentur und zog zu mir nach Foulness.
Von Oscar Wilde stammt sinngemäß der Ausspruch, das
Leben sei ein kurzer Zeitabschnitt voller schöner Augenblicke. In
den Monaten danach bereitete Sheila mir viele solcher Augenblicke, auch
an besagtem Morgen. Innerhalb weniger Minuten hatte sie mich so weit
beruhigt, daß wir uns zärtlich liebten, viel intensiver,
raffinierter als damals in unserer ersten Nacht. In dieser Beziehung
hatte sie mir einiges beigebracht.
Danach fühlte ich mich viel wohler, der
schreckliche Alptraum, meine Angst, waren vergessen. Ich
küßte ihre erigierte linke Brustwarze, schlug das Laken
zurück und ging ins Bad.
Ein befreundeter Arzt hat mir einmal gesagt, daß
der Schock einer eiskalten Dusche für das Gefäßsystem
schädlich sei und die Lebenserwartung um einen Monat
verkürze. Zugegeben, er war zu diesem Zeitpunkt sturzbesoffen,
doch seine Aussage diente mir stets als eine willkommene Ausrede
dafür, mich jeden Morgen fünf Minuten lang so heiß zu
duschen, wie ich es gerade noch aushalten konnte.
Als ich ins Schlafzimmer zurückging,
war Sheila nicht mehr da. Ich roch Kaffeeduft und spürte
plötzlich meinen knurrenden Magen. Ich zog mich schnell an und
ging ins Wohnzimmer. Im Kamin knisterten die Holzscheite; Sheila hatte
ihre Staffelei davor aufgestellt.
Sie hatte wieder ihren alten Frotteemantel an, hielt
die Palette mit der linken Hand hinter ihren Rücken und tupfte mit
einem langen Pinsel heftig auf die Leinwand.
»Ich trinke Kaffee«, sagte sie, ohne sich
nach mir umzudrehen. »Für dich hab' ich Tee gemacht. Dort
drüben auf dem Tisch.«
Ich goß mir eine Tasse ein, stellte mich hinter
sie und schaute ihr über die Schulter. Das Bild war wirklich gut;
es zeigte einen Blick vom Haus aufs Meer. Sie hatte die Stimmung exakt
eingefangen: die Salzwiesen mit dem Strandflieder, das seltsam helle
Licht, das von den Wattflächen reflektiert wird. Und vor allem die
Einsamkeit.
»Gefällt mir.«
»Mir noch nicht so ganz.« Sie pinselte
weiter, ohne den Kopf zu wenden. »Aber es wird. Was willst du zum
Frühstück?«
»Jetzt noch nichts. Ich will auf keinen Fall die
Künstlerin bei der Arbeit stören.« Ich küßte
ihren Nacken. »Ich geh' mit Fritz raus.«
»In Ordnung.«
Die Pinselstriche wurden schneller; die Konzentration
stand ihr ins Gesicht geschrieben. Für sie existierte ich nicht
mehr. Ich holte deshalb meine Feldjacke und ließ sie allein.
Von irgendwem habe ich einmal gehört, daß Airedales in
Amerika zur Bärenjagd abgerichtet wurden. Außerdem seien sie
ausgezeichnete Schwimmer, was in einer Gegend wie Foulness sicherlich
ganz nützlich war. Aber Fritz, an dem Sheila mit jeder Faser ihres
Herzens hing, ein zotteliger, rotschwarzer Kerl, den man einfach
liebhaben mußte, obwohl er die Angewohnheit hat te,
fürchterlich laut zu bellen, war eine Ausnahme. Nicht einmal die
Vögel hatten noch Angst vor ihm; darüber hinaus war er
schrecklich wasserscheu und achtete genau darauf, daß seine
Pfoten nicht naß wurden. Er trottete auf dem ausgefahrenen
Feldweg durchs Gras voraus, ich hinterher.
Foulness – der Name kommt aus dem
Angelsächsischen und bedeutet »Kap der Vögel«,
und es gab Unmengen von ihnen. Ich hatte schon immer einen Hang zur
Einsamkeit gehabt und hier, kaum hundert Kilometer von London entfernt,
das richtige Plätzchen für mich gefunden. Inseln, Nebel,
Deiche, die vor Jahrhunderten von Holländern gebaut worden waren,
kleine Buchten, langes Gras, das wogend seine Farbe veränderte,
das allgegenwärtige Glucksen von Wasser und das Meer, das wie ein
Geist in der Nacht heranschleicht, um den Unachtsamen zu verschlingen.
Die Römer kannten dieses Fleckchen Erde,
geächtete Angelsachsen verbargen sich hier vor den Normannen, und
nun tat Ellis Jackson seit einiger Zeit so, als gäbe es nichts
anderes.
Herbst im Marschland ist das Blauviolett des
Strandflieders auf den Salzwiesen, der faulige Geruch verrottender
Pflanzen, Vogelgeschrei, das ständig von jenseits des Deiches
erklingt, die von der Nordsee heranbrausenden Böen, das
unaufhörliche Heulen des Windes, der Sommer, der vorbei, und der
Winter, der noch nicht da ist.
Aber war das wirklich alles? Eine
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