Tödliche Seilschaft: Roman (German Edition)
durch den Schneesturm zur
Marc e Rosa-Hütte gestapft. Der Pickel, ein inzwischen beinahe schon museumsreifes
Modell, eine Mischung aus Küchenbeil und Alpenstock, war längst leicht angerostet,
und sie gab ihn in die Metallabfuhr. In Anlehnung an einen uralten Film mit der
schwedischen Schauspielerin Ulla Jacobssen, betitelt »Sie tanzte nur einen Sommer«
stellte sie, wie schon auf der Rückreise von Pontresina in die Schweiz, nun über
ihre jugendlichen Abenteuer lachend fest: Ich kletterte nur einen Sommer!
Einige Fotos, Gipfelaufnahmen von Alex und ihr, blieben als einzige
Souvenirs an die Zeit in Südtirol und verstaubten in einer Schachtel. Das waren
immerhin Beweise, dass sie es einmal in ihrem Leben in einem einzigartigen Sommer
auf acht oder neun Dreitausender geschafft hatte. Eine erstaunliche Leistung, auf
die sie im Nachhinein fast ein bisschen stolz war. Klettern hatte sie gelernt, aus
lauter Liebe jedes Risiko auf sich genommen. Ein Lernprozess auch in Sachen Liebe.
Mit den Jahren vermischten sich
die Eindrücke und Erlebnisse jenes Sommers in den Dolomiten immer mehr mit all dem,
was sie später über den Minnesänger Oswald von Wolkenstein las. Manchmal schien
ihr, die beiden Männer seien einander in vielem sehr ähnlich. Glich die Hütte am
Völser Weiher mit dem Wassergraben nicht der Burg Hauenstein am Fuße des Schlern,
in der Oswald längere Zeit verbracht und dort das »Hauensteinlied«, einen seiner
großartigsten Liedtexte, geschrieben hatte? 600 Jahre früher oder später gelebt
zu haben – was macht das einmal für einen Unterschied? Auch Alex hatte einen gewissen
literarischen Ehrgeiz und schrieb gerne, zwar keine Lieder, sondern Berichte über
Erstbesteigungen. Nur singen konnte Alex nicht, nein, eigenartig, Eva konnte sich
nicht erinnern, ihn je singen gehört zu haben.
Inwiefern
unterscheidet sich ein abenteuerlicher Kreuzzug ins Heilige Land ums Jahr 1400 von
einer ebenso strapaziösen Suche nach Erdöl und Wasser 1969 in Saudi-Arabien? Beide
– den Minnesänger wie den Geologen – zog es zwischendurch immer wieder in die Heimat,
nach Südtirol.
Einen –
außer dem musikalischen Talent – weiteren entscheidenden Unterschied gab es zwischen
den beiden Abenteurern: Alex blieb in seiner Sucht nach Eroberung von Gipfeln stecken,
während Oswald von Wolkenstein ein eindrucksvolles literarisches Werk schuf, das
die Jahrhunderte überlebt hat.
Wenn Eva je noch an die Geschichte
mit Alex dachte, sah sie jeweils die drei Dörfer Seis, Kastelruth und Völs hoch
über dem Eisacktal vor sich: die zwiebelförmigen Kirchtürme unter den gewaltigen
Felsen des Schlern, den tiefblauen Himmel über den Wäldern, das in der untergehenden
Sonne erglühende Dolomitgestein des Rosengartens und den Völser Weiher in seiner
Verträumtheit.
Die Alpen jedoch betrachtete sie am liebsten aus der Ferne, es zog
sie nie mehr auf einen Drei- oder Viertausender oder eher, es gab längst andere,
weit wichtigere Ziele und Herausforderungen für sie. Zum Beispiel das Schreiben
eines längeren Textes, was mindestens so schwierig wie das Besteigen eines Gipfels
sein kann.
Krems/Stein. Sie lag auf dem
breiten Bett im dritten Stock der ehemaligen Eibl-Teppichfabrik und dachte an all
die Dichter und Schriftstellerinnen aus Ost- und Südosteuropa und der Schweiz, die
ihren Schreibaufenthalt im selben Raum mit der breiten Fensterfront verbracht und
ihre Spuren hinterlassen hatten. Hier ein Brandfleck von einer Zigarette oder Kerze,
dort ein Sprung in einem Glas, ein Riss in der Tapete, eine angefangene Flasche
Traubenöl, Prospekte, Bücher und ein eben entstandenes Gedicht, das noch in der
Luft zu schweben schien. Der Boden unter dem Schreibtisch war abgewetzt von den
Schuhsohlen und nackten Füßen all jener, die mehr oder weniger fleißig stunden-,
tage-, wochenlang da gesessen, nachgedacht, geschwitzt und auf ihren Laptops oder
dem PC getippt hatten. Texte, Geschichten und Verse, Briefe und Tagebuchnotizen.
Wenige hatten
über die Donau, die Wachau und das Literaturhaus berichtet. Eher schien das Gefängnis
gegenüber die Fantasie besonders inspiriert zu haben. Auch sie stellte sich die
engen Zellen vor hinter den hohen Mauern mit Stacheldraht, die Insassen bei ihren
eintönigen Spaziergängen im Hof. Dahinter, im Grünen, erhob sich die Donau-Universität
Krems, mit der Filmakademie, ein Ort, wo für zahlreiche junge Menschen eine vielversprechende
Zukunft begann. Der Kontrast konnte kaum größer
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