Tödliche Täuschung
persönliche Gründe, warum ein Mann nicht heiraten wollte, und viele dieser Gründe mochten zu heikel sein, um sie mit anderen zu besprechen.
»Ich werde Ihnen helfen, wenn ich kann, Mr. Melville«, sagte er freundlicher. »Aber ich fürchte, nach allem, was Sie mir erzählt haben, kann ich nicht viel für Sie tun. Lassen wir die Angelegenheit doch ruhen, bis Sie Ihr Möglichstes versucht haben, Miss Lambert zu überreden, die Verlobung selbst zu lösen.« Seine Worte klangen ermutigender als beabsichtigt. Er wollte den Fall nicht übernehmen.
»Vielen Dank«, sagte Melville, eine Hand auf dem Türknauf. Seine Stimme war ausdruckslos. »Ich danke Ihnen, dass Sie mir Ihre Zeit gewidmet haben, Sir Oliver.«
Rathbone verbannte den Fall Melville aus seinen Gedanken und führte seine ursprüngliche Absicht aus, sein Quartier in der Vere Street frühzeitig zu verlassen. Der herrliche Nachmittag war noch nicht vorüber, und er ließ den Droschker des Hansom anhalten und ging die letzte halbe Meile zu Fuß. Er begegnete zwei eleganten Damen aus seiner Bekanntschaft, die ein wenig frische Luft schnappen wollten. Ihre weiten Krinolinen zwangen ihn beinahe, den Gehsteig zu verlassen, um ihnen den Weg freizumachen. Er verbeugte sich vor ihnen und zog den Hut. Sie schenkten ihm ein charmantes Lächeln und setzten dann ihre Konversation fort.
Die schwache Brise trug die Musik eines Leierkastenmanns zu ihm herüber, und er hörte die fröhlichen Rufe von Kindern und das eilige Klappern von Pferdehufen, die eine leichte Kutsche oder einen Zweispänner zogen.
Zu Hause angekommen, hatte er noch reichlich Zeit, eine Abendmahlzeit einzunehmen, und sich dann in die Tageszeitungen zu vertiefen, bevor er seine Abendgarderobe anlegen und zu Lady Hardestys Ball aufbrechen musste.
Er traf zusammen mit etlichen anderen Gästen ein, stieg aus der Kutsche, entlohnte den Fahrer und ging die Treppe hinauf, den strahlenden Lichtern, wogenden Röcken, weißen Schultern, funkelnden Juwelen, der Musik und dem Lachen entgegen. Lakaien gingen mit Tabletts umher und boten Champagner an oder Limonade für die enthaltsameren Gäste und die jungen Damen, die nicht unmäßig dem Alkohol zusprechen sollten. Ihre Anstandsdamen waren stets darauf bedacht, dass ihre Schützlinge sich nicht unziemlich benahmen. Ein Mädchen, das in seiner ersten Saison keinen guten Eindruck machte, befand sich in einer heiklen Lage. Hatte es dann im Jahr darauf keinen Ehemann gefunden, konnte man es häufig abschreiben.
Rathbone nahm diese Tatsachen des Lebens eher gelassen zur Kenntnis. Es war ein Wissen, das mehr den Verstand als die Gefühle berührte. Ob ein Mann heiratete oder nicht, war, außer für ihn selbst, ohne Belang. Die Gesellschaft schätzte ihn dafür nicht mehr oder nicht weniger. Während er durch die Menge schlenderte, fing er Bruchstücke einzelner Gespräche auf.
»Was ist eigentlich aus Louisa geworden?«, fragte eine ältliche Dame im burgunderfarbenen Seidenkleid. Ihre Frage war offensichtlich rhetorischer Natur. »Aber wissen Sie das denn nicht, meine Liebe? Sie hat das Land verlassen. Ist nach Italien gegangen, glaube ich. Was hätte sie sonst tun können?«
»Was sonst?«, fragte ihre Begleiterin. Ihr hageres Gesicht drückte Verwirrung aus, dann schien sie plötzlich zu begreifen.
»Ach du meine Güte! Sie meinen doch nicht, dass sie sich von ihm hat scheiden lassen, oder? Ja, warum denn nur?«
»Er hat sie geschlagen«, antwortete die Dame in Burgunderrot und neigte sich ein wenig vor. »Ich dachte, das wüssten Sie!«
»»Ich habe… aber wahrhaftig… ich meine… Italien, sagen Sie?« Ihre Augen weiteten sich. »Ich nehme an, das war die Sache wert… Aber ein schrecklich schlechtes Beispiel. Ich weiß nicht, wo das alles noch hinführen soll!«
»Ganz recht«, pflichtete die erste Matrone ihr bei. »Ich werde nicht zulassen, dass meine Töchter davon erfahren. Es ist sehr beunruhigend.« Sie senkte vertraulich die Stimme. »Man ist doch bei weitem glücklicher dran, wenn man genau weiß, was man vom Leben zu erwarten hat. Rose Blaine hat gerade ihr Neuntes bekommen, wussten Sie das schon? Wieder ein Junge. Sie werden ihn Albert nennen, nach dem Prinzen.«
»Wo wir gerade beim Thema sind«, fuhr ihre Freundin fort, die geistesabwesend über ihre Röcke strich. »Mariah Harvey hat mir erzählt, dass er dieser Tage ziemlich schlecht ausgesehen habe, richtig teigig, Sie wissen schon - er hat seine gesunde Gesichtsfarbe und seine Figur
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