Tödliche Unschuld
dem Treiben unten auf der Straße nichts mehr zu hören war.
Dass er Nasenbluten hatte, merkte er gar nicht.
Louis K. hielt eine Flasche mit lauwarmem, selbst gebranntem Fusel vor seine heiße Stirn. Er wünschte sich, er hätte eine Knarre. Wenn er eine gottverdammte Knarre hätte, würde er sich aus dem gottverdammten Fenster lehnen und sämtlichen Passanten auf der gottverdammten Straße einfach die Lichter ausblasen.
Die einzige Gewalttat, die er bisher jemals begangen hatte, war, einen nicht zahlenden Kunden mit einem leichten Tritt von seinem Luftbrett zu befördern. Jetzt aber, als er über seinen Büchern schwitzte und der Wahnsinn wie eine schwarze Rose in seinem Hirn erblühte, verlieh ihm der Gedanke an Tod und Verderben neue Energie.
Sein Gesicht war kreidebleich, und der Schweiß strömte aus seinem stumpfen braunen Haar über seine schmalen Wangen bis hinab auf seine Brust. In seinen Ohren rauschte es, und er hatte das Gefühl, als schwappe eine Flut von Fett in seinem Bauch. Die Hitze machte ihn krank. Und wenn er krank in seiner Bude hockte, verdiente er kein Geld. Er sollte den Hausmeister dafür bezahlen lassen. Ja, genau.
Seine Hände fingen an zu zittern, doch er starrte weiter auf den Computermonitor.
Konnte seinen Blick nicht lösen von dem Bild.
Er stellte sich vor, wie er ans Fenster trat, nach draußen kletterte und die Fäuste gegen die Wand aus heißer Luft, gegen den Lärm, gegen die Menschen auf der Straße schüttelte. Wie er eine Knarre in einer dieser Fäuste hielt, Tod und Verderben über all die Leute brachte und dabei aus Leibeskräften schrie. Schrie und schrie und schrie.
Er würde springen, auf den Füßen landen und dann. .
Als er plötzlich lautes Klopfen hörte, drehte er sich ruckartig um und bleckte hasserfüllt die Zähne.
»Louis K., du Arschloch! Mach gefälligst die verdammte Musik leiser!«
»Fahr zur Hölle«, murmelte Louis und bückte sich entschlossen nach dem Baseballschläger, mit dem er, um neue Kunden anzuwerben, oft auf den Sportplatz ging. »Fahr zur Hölle, fahr zur Hölle. Lass uns alle zur Hölle fahren.«
»Hast du mich gehört? Verdammt!«
»O ja, ich habe dich gehört.« Nägel, riesengroße Eisennägel, bohrten sich in seinen Schädel. Er musste sie herausziehen. Mit einem spitzen Schrei ließ er den Schläger fallen und riss an seinem Haar. Trotzdem hielt das Bohren weiter an.
»Ich sage Suze, dass sie die Bullen rufen soll. Hast du gehört, Louis? Wenn du die Scheißmusik nicht endlich leiser machst, ruft Suze die Bullen.« Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, trommelte der Nachbar unablässig weiter gegen Louis’ Tür.
Halb außer sich von der Musik, dem Klopfen, dem Gebrüll und den langen Nägeln, die sich in seinen Schädel bohrten, hob Louis den Schläger wieder auf.
Öffnete die Tür und holte aus.
1
L ieutenant Eve Dallas lungerte an ihrem Schreibtisch auf dem Revier herum. Sie versuchte Zeit zu schinden. Die Aussicht darauf, sich in ein schickes Kleid werfen zu müssen, um dann in die Stadt zu fahren und ihren Mann und eine Horde Fremder zu einem als zwangloses Zusammensein getarnten Geschäftsessen zu treffen, war für sie ebenso verlockend wie in einen Recycler einzusteigen und darauf zu warten, dass der Schredder seine Arbeit tat.
Die Alternative, noch etwas länger im Büro zu bleiben, erschien ihr richtiggehend reizvoll.
Da sie an diesem Nachmittag einen Fall hereinbekommen und sofort hatte zum Abschluss bringen können, könnte sie noch den Bericht dazu verfassen und an ihren Vorgesetzten schicken. Sie hatte also tatsächlich zu tun. Da jedoch sämtliche Zeugen darin übereinstimmten, dass der Kerl, der von dem Gleitband vor der sechsten Etage eines Hauses auf den Bürgersteig gesegelt war, den Streit mit den beiden Touristen aus Toledo vom Zaun gebrochen hatte, bräuchte sie für den Papierkram höchstens ein paar Minuten.
In den letzten Tagen hatte sie mit einer Reihe ähnlich gelagerter Fälle zu tun gehabt.
Streitigkeiten zwischen Eheleuten, in deren Verlauf ein Partner dem anderen an die Gurgel gegangen war, Straßenprügeleien mit tödlichem Ausgang, ja sogar einen Streit an einem Schwebekarren über eine Eiscremetüte, bei dem einer der Beteiligten erschlagen worden war.
Die Hitze machte die Menschen schlaff und reizbar, was, wie sie hatte erkennen müssen, eine todbringende Mischung war.
Auch sie war leicht gereizt, als sie daran dachte, dass sie sich in Schale werfen musste, um die nächsten Stunden
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