Tödliches Orakel
seine schmale Brust.
»Ich muss kein Tier benutzen, denn ich lese in Ihren Eingeweiden«, fuhr ich im Plauderton fort, so, als würde ich nur noch eine winzige, unwichtige Kleinigkeit hinzufügen.
Sams Atem stockte, er erbleichte stärker – wahrscheinlich stellte er sich bildhaft vor, wie ich ihn umbrachte, aufschlitzte und wirre Worte in sein freigelegtes Gedärm murmelte. Dieser Gedanke ließ auch mich leicht schwindeln und ich beschloss, uns beide zu erlösen.
»Sam, entspannen Sie sich. Ich sehe in Sie hinein, ohne Sie anzurühren. Ihnen wird nicht ein Haar gekrümmt. Aber ich brauche einen Körper. Den Körper des Menschen, dessen Zukunft ich vorhersehen soll, um ihm prophezeien zu können. Mir reicht kein Foto, keine Haarsträhne, und auch die Linien in Ihrer Hand sagen mir nichts: Ich brauche den ganzen, lebendigen, atmenden, blutdurchpulsten Körper.«
Ich brauchte ihn deshalb, weil das Sehen immer damit begann, dass ich in den Menschen eintauchte. Durch den Mund in den Hals, durch den Hals in den Magen. Ja, in den Magen, der definitiv in die Kategorie 'Eingeweide' gehörte, denn er stank, war glitschig und schwarz und sauer. Ich arbeitete im Gekröse, in den Innereien, den Kaldaunen. Deswegen Haruspex. Deswegen die Übelkeit nach jedem Termin. Deswegen diese Gebühr.
»Okay«, sagte Sam, aber er klang nicht sonderlich glücklich dabei.
»Gut. Sam, da man Sie hier ein wenig unsanft reingeschubst hat, dürfen Sie sich jetzt überlegen, ob Sie Ihre Chance nutzen wollen. Ob Sie sich von mir weissagen lassen möchten. Sie können die Frage stellen, die Sie mit der Karte erhalten haben, aber auch jede andere, solange sie mit Ihnen zu tun hat. Wenn Sie nicht wollen, können Sie natürlich einfach gehen – die Gebühr bekommen Sie allerdings nicht erstattet. Wenn Sie es sich später anders überlegen sollten, müssten Sie einen neuen Termin machen und erneut die Gebühr entrichten. Den nächsten freien Termin habe ich ...« – ich rief meinen Kalender auf – »im Januar. Ich gebe Ihnen jetzt fünf Minuten zum Nachdenken.«
***
Ich schaltete mein Mikrofon aus, Sams blieb an, ich schaltete meine Kamera ab, Sams blieb an. Der Bildschirm vor ihm erblindete abrupt, und er starrte ein paar Sekunden verdutzt auf das Schwarz, dann wanderten seine Augen zu der Karte in seinen Händen. Er drehte und wendete sie, las den Text darin – sicherlich zum hundertsten Mal, seitdem er diese seltsame Einladung bekommen hatte. Auch das lose Blatt prüfte er erneut, dann stand er auf, steckte Karte und Zettel zurück in den Umschlag, legte ihn auf den Tisch neben das lädierte Buch.
Er wird gehen, dachte ich, und war nicht erstaunt darüber. Enttäuscht vielleicht? Ja, enttäuscht auf jeden Fall, denn es interessierte mich durchaus, was am 10. August passieren würde. Und wer 9.999 Euro dafür ausgab, um Sam das auf diese ungewöhnliche Art und Weise mitzuteilen.
Aber Sam ging nicht: Er stand immer noch vor dem Sofa, wenn auch sichtlich unentschlossen. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, was in ihm los war. Jemand bestellt dich mit einer anonymen Einladung zu einer Wahrsagerin. Witzig, oder? Was für eine Idee! Unglaublich! Ja, unglaublich. Bis zu dem Punkt, wo diese Wahrsagerin behauptet, dieser jemand habe zehntausend Euro für diesen kleinen Witz bezahlt. Und das Geld war bezahlt worden, ich überzeugte mich vor jedem Termin davon und transferierte das Geld von A über B und C nach D, wo es sich brav sammelte und vermehrte. Oder mich mit einem erfrischenden Pool erfreute, wie erst kürzlich: Er war azurblau, eiskalt, wunderschön - und gestern hatte ich erstmals Wasser eingelassen, nach einer quälenden Woche des Wartens, in der die Fliesen hatten trocknen müssen. Er war eine Wohltat in der drückenden Hitze, eine Wohltat nach der täglichen Magenschau. Er wartete noch auf eine Abdeckung, die sein Wasser sauber halten sollte, aber er war dennoch das Tüpfelchen auf dem i, das in meiner schlammigen Eingeweidewelt gefehlt hatte. Er war perfekt.
»Sie können mich hören, oder?«
Sams Stimme riss mich aus den Gedanken an meinen Pool, ich sah in das Zimmer: Sam saß wieder auf dem Sofa vor dem Monitor. Ich warf einen prüfenden Blick in den Spiegel, tupfte mir mit einem Taschentuch ein paar Schweißperlen von der Stirn, knipste dann mein Lächeln, meine Kamera und mein Mikrofon erneut an.
»Natürlich kann ich Sie hören. Wie lautet Ihre Entscheidung?«
»Ich will wissen, was am 10. August passiert.«
Ich
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