Australien 02 - Der Sternenleser
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D aniel Rooke war ein stiller, in sich gekehrter Mensch, eine schweigsame Natur. So weit er zurückdenken konnte, war er immer ein Außenseiter gewesen.
In der Grundschule in Portsmouth hatte man ihn für dumm gehalten. Sein erster Schultag, der dritte März 1767, fiel zufällig mit seinem fünften Geburtstag zusammen. In seiner neuen Jacke, den von seiner Mutter zubereiteten Frühstückshaferbrei wohlig im Bauch, setzte er sich an sein Pult und freute sich darauf, die Welt außerhalb seines Zuhauses kennenzulernen.
Mrs. Bartholomew zeigte ihm einen schlechten Kupferstich, unter dem das Wort »Katze« stand. Seine Mutter hatte ihm das Alphabet beigebracht, und er konnte seit einem Jahr lesen. Er verstand nicht, was Mrs. Bartholomew von ihm wollte. Mit offenem Mund saß er an seinem Pult.
Da war er zum ersten Mal mit Mrs. Bartholomews alter Haarbürste verdroschen worden, weil er eine Frage nicht beantwortet hatte, die so einfach war, dass er verunsichert schwieg.
Das Einmaleins langweilte ihn. Während die anderen Kinder es im Chor herausschmetterten und dabei schon ungeduldig auf die Vormittagspause warteten, schielte Rooke unter das Pult in das Notizbuch, in dem er seine besonderen Zahlen sammelte, Zahlen, die außer durch eins und sich selbst nicht teilbar waren. Sonderlinge, genau wie er.
Als Mrs. Bartholomew eines Tages auf ihn zustürzte und ihm das Notizbuch entriss, befürchtete er, sie würde es ins Feuer werfen und ihn wieder mit der Haarbürste verdreschen. Doch sie schaute nur lange hinein und ließ es in ihrer Schürzentasche verschwinden.
Er hätte sie gerne gebeten, es ihm zurückzugeben. Nicht wegen der Zahlen, die hatte er im Kopf, sondern wegen des Notizbuchs, das zu wertvoll war, um es zu verlieren.
Dann kam Dr. Adair von der Akademie in das Haus an der Church Street. Rooke wusste weder, wer Dr. Adair war, noch was er in ihrem Wohnzimmer zu suchen hatte. Er wusste nur, dass er für einen Besucher gewaschen und gekämmt worden war, dass man seine kleinen Schwestern zur Nachbarsfrau geschickt hatte und seine Eltern mit starrer Miene auf den unbequemen Stühlen in der Ecke saßen.
Dr. Adair beugte sich vor. Ob Master Rooke etwas von Zahlen wisse, die nur durch eins und sich selbst teilbar seien? Rooke vergaß seine Scheu. Er lief in seine Dachkammer hinauf und kam mit dem Blatt zurück, auf das er ein Gitternetz gezeichnet hatte, zehn mal zehn Quadrate für die Zahlen von eins bis hundert, und mit roter Tinte diese besonderen Zahlen: zwei, drei, fünf und weiter bis siebenundneunzig. Er deutete mit dem Finger darauf: Da ist eine Art Muster, schauen Sie, hier und hier. Hundert Zahlen seien jedoch nicht genug, er brauche ein größeres Blatt Papier, um zwanzig oder gar dreißig Quadrate neben- und untereinander zeichnen zu können und dann das richtige Muster zu finden. Ob ihm Dr. Adair vielleicht solch ein Blatt besorgen könne?
Auf dem Gesicht seines Vaters lag inzwischen das verzerrte Lächeln, das sich immer dann zeigte, wenn sein Sohn einem Fremden gegenüber offenbarte, was für ein seltsamer Junge er war. Seine Mutter hatte den Blick gesenkt. Rooke faltete das Blatt mit dem Gitternetz zusammen und verbarg es auf dem Tisch unter seiner Hand.
Doch Dr. Adair hob die Finger des Jungen von dem schmuddeligen Papier.
»Darf ich mir das einmal ausleihen?«, fragte er. »Ich würde es gerne einem Herrn aus meinem Bekanntenkreis zeigen, den es interessieren wird, dass dies von einem siebenjährigen Jungen stammt.«
Nachdem Dr. Adair gegangen war, brachte die Nachbarin seine beiden Schwestern zurück. Sie musterte Rooke und sagte mit überlauter Stimme, als wäre er taub oder ein Hund: »Ja, er sieht wirklich klug aus.«
Rooke spürte, wie er bis in die Haarwurzeln errötete. Mochte er nun dumm oder klug sein, eines änderte sich nicht: der Schmerz, mit der Welt nicht in Einklang zu sein.
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Als Rooke acht wurde, bot Dr. Adair ihm das Stipendium an. Es waren bloß Worte: ein Platz an der Marineakademie Portsmouth . Der Junge dachte, das Leben dort könne sich nicht allzu sehr von seinem bisherigen unterscheiden – also machte er sich unbekümmert auf den Weg und winkte seinem am Tor stehenden Vater nur flüchtig zu.
In der ersten Nacht lag er reglos im Dunkeln, vor Schock unfähig zu weinen.
Die anderen Jungen fanden heraus, dass sein Vater Angestellter war und jeden Tag in das gedrungene Backsteingebäude am Hafen ging, wo sich das Amt für Artilleriewesen und Heeresausrüstung
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