Tokio
glücksbringenden Senninbari- Gürtel. Er gab keinen Laut von sich. Sein Gesicht zuckte. Er riss seinen Kopf so ruckartig zurück, dass seine Armeemütze herunterfiel und wir beide überrascht einen Schritt zurückwichen, während wir auf das starrten, was ich getan hatte. Eine Fontäne von Blut ergoss sich in den Schnee, und das Innere seines Bauchs stülpte sich durch den Riss in seiner Uniform wie eine schleimige Frucht nach außen. Er stierte einen Moment lang verständnislos darauf. Dann registrierte er den Schmerz. Er ließ das Gewehr fallen und umklammerte seinen Bauch, versuchte verzweifelt, seine Gedärme wieder hineinzustopfen. »Kuso!«, entfuhr es ihm.
»Was hast du getan?«
Ich taumelte zurück, und das Messer fiel aus meiner Hand, während ich blind nach einem Baum tastete, an den ichmich lehnen konnte. Der Soldat kehrte mir den Rücken und wankte tiefer in den Wald. Mit einer Hand umklammerte er seinen Bauch, mit der anderen hielt er noch immer die Kamera fest, während er sich ungelenk vorwärts bewegte, den Kopf seltsam würdevoll hoch erhoben, als würde dort inmitten der Bäume eine bessere, sicherere Welt warten. Ich folgte ihm, stolperte keuchend durch den Schnee. Nach etwa zehn Metern strauchelte er, verlor fast das Gleichgewicht und schrie etwas: einen japanischen Frauennamen, vielleicht der Name seiner Mutter oder seiner Frau. Er hob seinen Arm, und die Bewegung musste Dinge in seinem Innern gelöst haben, denn etwas Dunkles, Langes schlängelte sich aus der Wunde und fiel in den Schnee. Der Soldat rutschte darauf aus und versuchte, sich wieder zu fangen, doch mittlerweile war er sehr schwach und schleppte sich benommen im Kreis weiter, zog dabei eine lange rote Spur hinter sich her, so als wäre dies eine Geburt und kein Tod. »Gib sie her. Gib mir die Kamera.«
Er konnte nicht antworten. Er hatte jegliche Fähigkeit zu rationalem Denken verloren: Er wusste nicht mehr, was passierte. Er sank auf die Knie, seine Arme leicht erhoben, und kippte sacht auf die Seite. Im nächsten Moment war ich bei ihm. Seine Lippen waren blau, die Zähne blutverschmiert.
»Nein«, flüsterte er, als ich die Kamera aus seinen behandschuhten Fingern nestelte. Seine Augen waren, bereits blind, doch er spürte, wo ich war, und tastete verzweifelt nach meinem Gesicht. »Nimm sie mir nicht weg. Wenn du sie mir wegnimmst, wer wird es dann der Welt erzählen?«
»Wenn du sie mir wegnimmst, wer wird es dann der Welt
erzählen?«
Diese Worte haben sich mir ins Gedächtnis eingebrannt. Ich werde sie bis ans Ende meines Lebens nicht vergessen. Wer wird es dann erzählen? Ich starre lange auf den Himmel über dem Haus, auf den schwarzen Rauch, der vor dem Mond wabert. Wer wird es dann erzählen? Die Antwort lautet: niemand. Niemand wird es erzählen. Es ist alles vorbei. Dies ist der letzte Eintrag in meinem Tagebuch. Ich werde nie wieder schreiben. Der Rest meiner Geschichte wird auf dem Film in der Kamera verewigt sein, und was heute geschehen ist, wird ein Geheimnis bleiben.
TOKIO
1
Tokio, Sommer 1990
Manchmal muss man einfach über seinen eigenen Schatten
springen. Selbst wenn man müde und hungrig und an einem
völlig fremden Ort ist. So wie ich in jenem Sommer in Tokio, als ich vor Professor Shi Chongmings Tür stand und vor Nervosität zitterte. Ich hatte mein Haar platt an den Kopf gedrückt, damit es so eng wie möglich anlag, und viel Zeit darauf verwandt, meinen alten Secondhandrock zurechtzuzupfen, den Staub abzuklopfen und die Sitzfalten glatt zu streichen. Ich hatte die abgewetzte Umhängetasche hinter meinen Füßen versteckt, damit sie ihm nicht gleich als Erstes ins Auge fiel, denn es war so unendlich wichtig, normal auszusehen. Ich musste bis fünfundzwanzig zählen und tief durchatmen, bevor ich den Mut hatte zu sprechen.
»Hallo?«, sagte ich zögernd, mein Gesicht ganz nah an der Tür. »Sind Sie da?«
Ich wartete einen Moment und lauschte angestrengt. Von drinnen konnte ich undeutliches Schlurfen hören, aber es kam niemand an die Tür. Ich wartete noch einen Augenblick länger, während mein Herzschlag in meinen Ohren zu dröhnen begann, dann klopfte ich. »Können Sie mich hören?«
Die Tür ging auf, und ich wich verblüfft einen Schritt zurück. Shi Chongming stand in der Tür, sehr förmlich und korrekt, und sah mich schweigend an. Seine Hände hingen neben dem Körper, als würde er darauf warten, visitiert zu werden. Er war unglaublich klein, wie eine Puppe, und das feine Dreieck
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