Nachtprogramm
Die und wir
Als meine Familie nach North Carolina zog , mieteten wir zuerst ein Haus, das nur drei Blocks von der Schule entfernt lag, in der ich nach den Ferien die dritte Klasse besuchen würde. Meine Mutter freundete sich mit einer Nachbarin an, mehr aber auch nicht. Da wir in einem Jahr schon wieder woanders sein würden, erklärte sie, mache es keinen Sinn, engeren Kontakt zu Leuten zu knüpfen, von denen wir uns dann verabschieden müssten.
Unser nächstes Haus war keine Meile entfernt und der Umzug insofern kein Grund für einen tränenreichen Abschied. Es hatte mehr was von »Na dann, bis später«, doch machte ich mir die Einstellung meiner Mutter zu Eigen, weil ich dadurch so tun konnte, als verzichtete ich bewusst darauf, neue Freunde zu suchen. Ich hätte ohne weiteres welche finden können, nur war es dafür eben nicht der rechte Augenblick.
In New York hatten wir auf dem Land gewohnt, ohne B ürgersteige oder Straßenbeleuchtung, – man konnte aus dem Haus gehen und war immer noch für sich. Wenn man jetzt aus dem Fenster schaute, sah man andere Häuser, und darin waren Leute. Ich stellte mir vor, abends im Dunkeln um herzustreifen und Zeuge eines Mordes zu werden, doch hockten unsere Nachbarn meistens nur in ihren Wohnzimmern vor dem Fernseher. Die einzige wirkliche Ausnahme war das Haus von Mr. Tomkey, der nicht an das Fernsehen glaubte. Wir erfuhren dies von der Freundin meiner Mutter, als sie eines Nachmittags einen Korb mit Okraschoten vorbeibrachte. Die Frau ließ sich nicht weiter darüber aus, sondern traf lediglich eine Feststel lung, aus der ihre Zuhörerin machen konnte, was sie wollte. Hätte meine Mutter gesagt, »das ist das Verrückteste, was ich je gehört habe«, hätte die Freundin vermutlich zugestimmt, und hätte sie gesagt, »ein Hoch auf Mr. Tomkey«, wäre sie damit ebenso einverstanden gewesen. Es war eine Art Test, genau wie die Okraschoten.
Zu sagen, man glaube nicht an das Fernsehen, war etwas anderes, als zu sagen, man mache sich nichts daraus. Glaube beinhaltete, dass hinter dem Fernsehen eine Idee steckte und dass man dagegen war. Und Glaube deutete auch darauf hin, dass man zu viel nachdachte. Als meine Mutter uns erzählte, Mr. Tomkey glaube nicht an das Fernsehen, sagte mein Vater: »Schön für ihn. Ich wüsste auch nicht, dass ich dran glaube.«
»Ganz meine Meinung«, sagte meine Mutter, und dann sahen meine Eltern die Nachrichten und was immer danach kam.
Bald wussten alle, dass Mr. Tomkey keinen Fernseher besaß, und man hörte hier und da, das sei alles schön und gut, nur sei es unfair, anderen sei ne Überzeugungen aufzuzwingen, ganz besonders seiner Frau und seinen Kindern, die nichts dafür konnten. Man spekulierte auch, dass so, wie ein Blinder ein gesteigertes Hörvermögen entwickelt, die Familie auf irgendeine Weise den Verlust kompensieren müsse. »Vielleicht lesen sie«, sagte die Freundin meiner Mutter. »Vielleicht hören sie Radio, aber irgendwas werden die schon machen.«
Ich wollte herausbekommen, was dieses Irgendwas war, und begann damit, durch die Fenster ins Haus der Tomkeys zu sp ähen. Tagsüber stand ich gegenüber auf der anderen Straßenseite und tat so, als warte ich auf jeman den, abends, wenn die Sicht besser war und ich nicht so schnell entdeckt werden konnte, schlich ich mich in den Vorgarten und versteckte mich in den Büschen hinter dem Zaun.
Weil sie keinen Fernseher hatten, mussten die Tomkeys beim Abendessen miteinander reden. Sie hatten selbst keine Vorstellung davon, wie armselig ihr Leben war, und schämten sich auch nicht, dass eine Kamera sie uninteressant gefunden hätte. Sie wussten nicht, was aufregend war oder wie ein Abendessen auszusehen hatte oder auch nur, um wie viel Uhr man aß. Manchmal saßen sie erst um acht am Tisch, wenn alle anderen schon längst abgeräumt und gespült hatten. Beim Essen donnerte Mr. Tomkey ab und zu mit der Faust auf den Tisch und zeigte mit der Gabel auf seine Kin der, doch wenn er damit fertig war, fingen alle an zu lachen. Ich hatte den Verdacht, dass er jemanden nachmachte, und fragte mich, ob er vielleicht uns heimlich beim Abendessen beobachtete.
Als im Herbst die Schule anfing, sah ich die Tomkey-Kinder mit Papiertüten in der Hand den Hügel hinauf stiefeln. Der Junge war eine Klasse un ter, das Mädchen eine über mir. Wir redeten nie miteinander, doch manchmal begegneten wir uns im Flur, und ich versuchte, die Welt mit ihren Au gen zu sehen. Wie fühlte es sich an, so
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