Tom Jones. Die Geschichte eines Findlings (German Edition)
dieser Tugend.«
»Was das Verdienstliche dabei beträfe,« sagte er, »wäre er mit dem Kapitän völlig einerlei Meinung; denn was könne bei bloßer Ausübung einer Pflicht für Verdienst sein; und daß es eine Pflicht wäre,« sagte er, »man möchte nun das Wort,
Liebe des Nächsten,
erklären wie man wolle, das erhelle aus dem ganzen Inhalt des Neuen Testaments, und so wie er es für eine unumgängliche Pflicht, nach den Gesetzen der christlichen Religion sowohl, als nach den Gesetzen der Natur hielte, so wäre solche außerdem noch so angenehm, daß, wenn man von einer Pflicht sagen könne, sie sei ihr eigener Lohn, oder sie vergelte uns durch ihre Ausübung selbst, man es von dieser sagen müsse.«
»Die Wahrheit zu gestehen,« sagt' er, »so gibt es einen Grad von Freigebigkeit (von Nächstenliebe, hätte ich lieber gesagt), welcher einigen Schein von Verdienstlichkeit hat, und dieser Grad ist, wenn wir aus Nächsten- und Christenliebe einem andern das geben, dessen wir wirklich selbst bedürfen; wenn, um die Not eines andern zu mindern, wir willig einen Teil davon über uns selbst nehmen, indem wir selbst von demjenigen hingeben, was wir nicht ohne wesentliche Unbequemlichkeit missen können. Dies ist, glaube ich, verdienstlich; aber unsern Brüdern bloß von unserem Ueberfluß ihre Not erleichtern; barmherzig sein oder Nächstenliebe üben (ich muß das Wort brauchen) mehr auf Kosten unseres Geldkastens als auf unsere eigenen; lieber einige Familien vom Elend retten, als [70] ein köstliches Gemälde in unserem Hause aufhängen, oder sonst eine von unsern thörichten und lächerlichen Eitelkeiten befriedigen, damit ist man nichts weiter, als ein bloßer Christ; ja, eigentlich nichts mehr, als ein bloßes menschliches Geschöpf. Noch mehr, ich wag' es noch weiter zu gehen, man ist damit gewissermaßen ein Epikuräer: denn was könnte der größeste Wollüstling mehr wünschen, als mit viel Mäulern statt mit Einem Munde zu essen! und dies, glaub' ich, kann man von jedem Manne sagen, der es weiß, daß das Brod vieler seine eigene Gabe ist.«
»Was die Besorgnis betrifft, man möchte seine Wohlthaten an solche verschwenden, die ihrer nachher unwürdig befunden werden, wie das nicht selten geschehen sein mag, so kann solches gewiß keinen Mann abschrecken, freigebig zu sein: Ich denke nicht, daß ein paar oder auch viele Beispiele von Undankbarkeit einen Mann rechtfertigen können, wenn er sein Herz gegen die Leiden seiner Mitgeschöpfe verhärtet. Ich glaube auch nicht, daß sie auf einen wirklich wohlthätigen Mann jemals diese Wirkung thun werden. Nichts weniger als die Ueberzeugung von allgemeiner Verderbtheit der Menschen kann einem guten Mann die Liebe des Nächsten verleiden; und diese Ueberzeugung müßte ihn, wie ich denke, entweder zum Atheisten, oder zum Enthusiasten machen. Aber es ist gewiß unbillig, auf eine solche allgemeine Verderbnis aus dem fehlerhaften Betragen einiger wenigen Menschen zu schließen; auch hat es, glaube ich, noch nie ein Mann gethan, der, wenn er sein eigenes Herz untersuchte, darinnen nur eine einzige Ausnahme von der allgemeinen Regel bemerkte.« Hier beschloß er damit, daß er fragte, wer der Rebhuhn sei, den er einen unwürdigen Kerl genannt hatte.
»Ich meine,« sagte der Kapitän, »Rebhuhn, den Barbierer, den Schulmeister, und was weiß ich alles? Rebhuhn, den Vater des Kindes, das Sie in Ihrem Bette fanden.« Herr Alwerth zeigte ein großes Erstaunen über diese Nachricht, und der Kapitän schien ebenso sehr verwundert darüber, daß er sie noch nicht wisse, denn er sagte, er habe es schon seit länger als einem Monat gewußt, und er schien sich mit vieler Mühe zu erinnern, daß er es durch Jungfer Wilkins erfahren habe.
Hierauf wurde die Wilkins augenblicklich vorgefordert, und nachdem sie das, was der Kapitän gesagt, bestätigt hatte, ward sie von Herrn Alwerth, auf und mit des Kapitäns Rat, nach Kleinpaddington gesandt, um sich nach der Wahrheit der Sache zu erkundigen: denn der Kapitän bezeigte einen großen Widerwillen gegen hastiges Verfahren in Kriminalsachen, und sagte, er möchte um aller Welt willen nicht, daß Herr Alwerth einen Entschluß [71] faßte, weder zum Nachteile des Kindes noch seines Vaters, bevor er nicht gewiß von der Schuld des letztern überzeugt wäre: denn, ob er gleich selbst für sich insgeheim diese Ueberzeugung von einem von Rebhuhns Nachbarn eingeholt hatte, so war er doch zu edelmütig, vor Herrn Alwerth dies Zeugnis
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