Tom Thorne 01 - Der Kuß des Sandmanns
bin, der ich immer werden sollte, glaube ich immer noch an all die Dinge, die du getan hast.« Er fing zu weinen an. »Ich erinnere mich immer noch an alles, was du mir beigebracht hast.«
Die Tränen versiegten so schnell, wie sie gekommen waren, und seine Stimme wurde wieder so scharf wie zuvor. »Also, wann war das? Seit wann denkst du, dass der menschliche Körper so wenig wert ist wie ein Stück Scheiße? War es, als du gesehen hast, wie leicht er sich mit Drogen manipulieren lässt? Wie ein Körper langsamer gemacht und gestaltet werden kann, wenn du ihn mit Beruhigungsmitteln voll stopfst? War sie dann die Frau, die du wolltest? Anschließend? Ich und Rebecca haben sie immer Schneewittchen genannt, wusstest du das? Rebecca sagte, dass sie immer ausgesehen hat, als hätte sie in den Apfel gebissen und würde schon im Glassarg liegen.«
Rachels Atem wurde langsamer. Noch eine halbe Minute …
»Nein, ich wette, ich weiß, wann es war. Es war, als du gesehen hast, wie leicht ein Körper kaputtgemacht werden kann, oder? Wie zerbrechlich er ist. Wie leicht die Haut von splitterndem Glas aufgerissen werden kann oder wie wenig es braucht, um einen Körper zu zer schmettern. Oder vielleicht gehört das beides zusammen – wie ein mit Beruhigungsmitteln weich gemachter Körper bei einem Unfall reagiert und zum leichteren Ziel wird. Ja, das würde einen Sinn ergeben. Von da an hast du nur noch Patienten gesehen, die sich vor deinen Augen zersetzen. Zerbrechen, verrotten, sterben, schneller, als du sie wieder zusammennähen, verstärken oder generalüberholen kannst.
Du hast eine wertvolle Lektion gelernt. Eine wirksame Lektion. Sobald du das gelernt hattest, ging es darum, uns die Lektion beizubringen. Und uns anzutreiben Rachel hatte aufgehört einzuatmen. Sie stieß nur noch unregelmäßig den letzten Rest Luft aus.
»Ich hätte dich so gern im Gefängnis gesehen. Beobachtet, wie deine Haut gelb wird, deine Knochen zu Staub werden und deine Hoffnung verdampft. Du bist weich und eingebildet, und das Gefängnis hätte dich ganz langsam umgebracht. Dann hättest du herausgefunden, wie zerbrechlich der Körper wirklich ist. Einfach nur, wie zerbrechlich, Daddy …«
Thorne hörte Rachels Atem nicht mehr.
James Bishop schloss die Augen und flüsterte: »Gute Nacht, Schlafmütze, jetzt kommt der Sandmann …«
Anne Coburn schrie. Ein Brüllen von irgendwo ganz tief aus ihrem Bauch, und plötzlich herrschte in dem Zimmer völliges Durcheinander. Jeremy Bishop rannte los, rief den Namen seines Sohnes, als würde er einem Hund befehlen, sich hinzulegen und sich tot zu stellen. Mit dem instinktiven Gehorsam eines verängstigten Kindes nahm James seine Hände von Rachel und wich zurück. Rachel fiel hilflos auf ihr Gesicht.
Thorne rannte zu ihr und tastete nach dem Puls.
Komm schon …
Er hatte ihn gefunden. Sie atmete noch. Er hob sie hoch und legte sie vorsichtig neben ihrer Mutter in die stabile Seitenlage. Anne drehte ihre immer noch funkelnden Augen zu ihm hinauf. Ihre Erleichterung spiegelte sich in den Tränen wider, die ihre Wangen hinabrollten und auf das Gesicht ihrer Tochter tropften.
Einen Moment lang herrschte Stille.
Nur der Regen auf dem Dach war zu hören, als würden zehn Zentimeter lange Nägel über ihnen auf die Schindeln prasseln.
Thorne drehte sich um und sah, wie Jeremy Bishop langsam und mit ausgebreiteten Armen auf seinen Sohn zuging. Sein Gesicht erinnerte an eine Totenmaske.
James wich zurück und stieß gegen den Instrumentenwagen, der scheppernd nach hinten rollte. Lächelnd, den Kopf seitlich geneigt, blieb er stehen und hob seinen Arm anmutig in die Höhe.
Es sah beinahe aus, als wollte er sich verbeugen.
Die Bewegung wirkte so zufällig, als wollte sich James einfach nur an der Schulter kratzen. Thorne sah, wie in James’ Faust etwas Stählernes aufblitzte – und dann spritzte auch schon das Blut aus James’ Halsschlagader.
»Nein …« Jeremys Stimme war ein Flüstern, das ein Haus zum Einsturz hätte bringen können.
Thorne lehnte sich gegen die weiße Wand und sah zu, wie James auf die Knie fiel, gefolgt von seinem Vater. Jeremy umklammerte mit der Hand den Hals seines Sohnes, doch das Blut strömte zwischen seinen Fingern hindurch, und sammelte sich auf den gebohnerten weißen Dielen.
Jeremy drehte sich zu Thorne um. Sein Gesicht war voll gespritzt, sein Haar verklebt. »Rufen Sie einen Krankenwagen – schnell.« Seine Stimme war voller Verzweiflung, sein Gesicht
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