Tom Thorne 01 - Der Kuß des Sandmanns
selbst kaum. Er konnte kaum glauben, was sich einen Weg über seine Lippen bahnte. Holland starrte Thorne an, der mit weit geöffnetem Mund die Worte formte, die ihn so viel Mühe kosteten. Worte, die ihm sagten, während er sie äußerte, dass er nie Teil dieser Angelegenheit hätte werden dürfen.
»Alison Willetts ist nicht sein erster Fehler. Sie ist die Erste, bei der er es richtig gemacht hat.«
Tim geht mit der Sache nicht sehr gut um. Er hatte so eine erstickte Stimme, als er mit Anne sprach. Anne? Ich nenne sie beim Vornamen, obwohl ich sie nie persönlich kennen gelernt habe. Sie hört sich nett an. Ich mag unsere Gespräche am Abend. Klar, sie sind ein bisschen einseitig, doch zumindest weiß jemand, dass hier drin noch was ist. Dass hier drin noch jemand ist.
Habe ich übrigens schon die Tests erwähnt? Total genial. Na ja, einige jedenfalls. Grundsätzlich gesehen, gibt es eine Art Verfahren, mit dem getestet wird, ob man völlig dahinvegetiert oder nicht. Das heißt, ob man sich in einem Wachkoma befindet. Man sagt auch »permanentes vegetatives Syndrom« dazu – PVS. Das verwechsle ich ständig mit VPL, doch das PVS ist eine Nummer schärfer. Man testet die Sinneswahrnehmungen. Haut ein paar Hölzer zusammen, um zu sehen, ob man hört oder irgendwie reagiert. Bin mir nicht sicher, was ich getan habe, aber es schien ihnen zu gefallen. Ich wäre auch ohne die Nadelstiche und das Zeug ausgekommen, das sie einem unter die Nase halten und das so riecht wie das Mittel, das man bei einer schweren Erkältung inhaliert. Doch der Geschmackstest macht das wieder wett. Sie geben einem Whisky. Tröpfeln Whisky auf die Zunge. So habe ich Krankenhäuser gern.
Anne hat den Test durchgeführt. Sie sieht toll aus für jemanden, der so alt ist. Ich kann sie nicht sehr gut sehen, aber so ist das Bild, das ich von ihr habe. Ich erkenne eigentlich nicht mal Umrisse. Eher die Schatten von den Umrissen. Und einige von diesen Schatten sind eindeutig Polizisten. Tim hörte sich nervös an, als er mit einem von ihnen sprach. Der Polizist war ziemlich jung, glaube ich.
Der Mann vor dem Haus mit der Flasche Champagner hat … was gemacht? Hat mich zu einer langweiligen Gesprächspartnerin gemacht. Was noch? Hat mir irgendwo wehgetan, aber nicht so, dass es sich wie eine Wunde anfühlt.
Alles fühlt sich an wie eine Narbe.
Hat er mich berührt? Wird er der Letzte sein, der mich je berührt hat?
Los, Tim. Ich lebe. Ich bin immer noch ich. Mehr oder weniger. Du brichst zusammen, aber ich bin diejenige, die »Girlfriend In A Coma« singt …
Es war nett, dass Carol und Paul vorbeikamen. Mein Gott, ich hoffe, dass die ganze Sache ihnen nicht die Hochzeit vermasselt.
Zwei
»Haben wir es hier mit einem Arzt zu tun?«
In dem Moment, in dem Thorne die Frage gestellt hatte, wusste er, was Holland denken würde. Es war nicht zu übersehen, dass Anne Coburn zu der Sorte von Ärztinnen gehörte, denen Männer nachschauten. Über die Männer peinliche Witze reißen. Sie war groß und schlank. Elegant, dachte er, wie die Schauspielerin, die in Mit Schirm, Charme und Melone die alte Schlampe spielt. Auch wenn ihre blauen Augen vermuten ließen, dass ihr Haar einst blond gewesen sein musste, gefiel ihm die Art, wie sie es jetzt trug – kurz und silbergrau. Sie wirkte entspannt, wie sie da mit einer Tasse Kaffee auf der Kante eines kleinen, überquellenden Schreibtisches saß. Im Vergleich zum Vortag jedenfalls. Sie hatte ihn einfach aus dem Royal Free fortgeschickt. Thorne hörte immer noch das Lachen der etwa dreißig Medizinstudenten, als er durch den Korridor stapfte. Dies war offenbar die Gelegenheit, die Gehirnuntersuchungen zu unterbrechen, um die Lehrerin zu beobachten, die einem hochrangigen Polizisten einen derben Anschiss verpasste. Anne Coburn mochte es nicht, wenn man sie unterbrach. Als Thorne sie anrief, hatte sie sich am Telefon für den Zwischenfall entschuldigt, um einen neuen Termin am Queen Square zu vereinbaren, wo sie arbeitete und Alison Willetts behandelte.
Sie trank noch einen Schluck von ihrem Kaffee und wiederholte Thornes Frage. Sie hatte eine forsche, effizient klingende Stimme, die Eindruck auf beeinflussbare Medizinstudenten machen oder Polizisten mittleren Alters einschüchtern konnte. »Haben wir es hier mit einem Arzt zu tun? Nun, auf jeden Fall mit jemandem, der über eine gewisse medizinische Erfahrung verfügt. Um eine Basilararterie zu blockieren und einen Gehirnschlag zu verursachen, braucht
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