Tom Thorne 01 - Der Kuß des Sandmanns
man medizinische Kenntnisse. Einen Gehirnschlag mit gleichzeitigem Locked-in-Syndrom zu verursachen geht weit darüber hinaus … Selbst wenn derjenige wusste, was er tat, standen die Chancen schlecht. Man kann es ein Dutzend Mal probieren, ohne Erfolg zu haben. Wir reden hier von Bruchteilen eines Zentimeters.«
Diese Bruchteile hatten drei Frauen das Leben gekostet. Thorne ließ vor seinem geistigen Auge ein Bild von Alison Willetts aufblitzen. Mit ihr waren es vier Frauen. Vielleicht sollten sie Gott dankbar sein für die Erfahrung dieses Geisteskranken. Oder, was wahrscheinlicher war, sich Sorgen darüber machen, dass er nun glaubte, seine Technik verbessert zu haben, dass er sie ein weiteres Mal ausprobieren müsste. Dr. Coburn war noch nicht fertig. »Außerdem ist da noch der Transport.«
Thorne nickte. Darüber hatte er auch schon nachgedacht. Holland blickte verwirrt drein.
»Wenn ich das alles richtig verstehe, gehen Sie davon aus, dass Alison ihren Gehirnschlag zu Hause in South-East London hatte«, sagte Coburn. »Dann musste er sie am Leben erhalten, bis sie im Royal London waren, das mindestens …«
»… sieben Kilometer entfernt ist.«
»Genau. Er ist auf dem Weg an allen möglichen Krankenhäusern vorbeigekommen. Warum hat er sie zum Royal London gefahren?«
Thorne hatte keine Ahnung, doch er hatte einige Nachforschungen angestellt. »Auf dem direkten Weg von Camberwell bis Whitechapel ist er allein an drei großen Krankenhäusern vorbeigekommen. Wie hat er sie am Leben erhalten?«
»Wahrscheinlich mit Handbeatmungsbeutel und Atemmaske. Vielleicht musste er alle zehn Minuten halten und ein paar Mal auf den Beutel drücken, aber das ist ziemlich einfach.«
»Also ein Arzt?«
»Ich glaube ja. Vielleicht ein gescheiterter Medizinstudent – Chiropraktiker, möglicherweise … ein belesener Physiotherapeut, der gerade richtig mies drauf ist. Ich habe keine Ahnung, wo Sie anfangen könnten.«
Holland unterbrach die Kritzeleien in seinem Notizbuch. »Eine subkutane Nadel in einem Heuhaufen?«
Dr. Coburns Gesichtsausdruck sagte Thorne, dass sie die Bemerkung ebenso witzig fand wie er.
»Am besten ist, Sie fangen gleich mit der Suche an, Holland«, sagte Thorne. »Wir sehen uns morgen. Nehmen Sie sich ein Taxi zurück.«
Jeder Schritt, den er und Dr. Coburn sich auf Alisons Zimmer zubewegten, erfüllte Thorne mit etwas, das in Richtung Grauen ging. Es war ein furchtbarer Gedanke, aber er hätte es leichter gefunden, wenn Alison eine von Hendricks »Patientinnen« gewesen wäre. Er fragte sich, ob dies nicht auch für Alison einfacher gewesen wäre. Sie gingen durch den Chandler-Flügel und nahmen den Aufzug zur Intensivstation im zweiten Stock.
»Sie mögen keine Krankenhäuser, Detective Inspector, stimmt’s?«
Eine komische Frage. Thorne bezweifelte, dass irgendjemand Krankenhäuser mochte. »Ich habe zu viel Zeit darin verbracht.«
»Beruflich, oder …?« Sie zögerte. Waren dies die richtigen Worte? »Als Amateur?«
Thorne blickte ihr direkt ins Gesicht. »Ich hatte letztes Jahr eine kleine Operation.« Doch das war nicht der Punkt. »Und meine Mutter war lange Zeit im Krankenhaus, bevor sie starb.«
Coburn nickte. »Gehirnschlag.«
»Drei Stück. Vor achtzehn Monaten. Sie wissen wirklich, wie ein Gehirn funktioniert, oder?«
Sie lächelte. Er lächelte zurück. Gemeinsam verließen sie den Fahrstuhl.
»Übrigens war es ein Leistenbruch.«
Die Schilder an den Wänden faszinierten Thorne: Bewegung und Gleichgewicht; Senilität; Demenz. Es gab sogar eine Kopfschmerzabteilung. Es herrschte geschäftiges Treiben, doch er sah kein Blut, keine Verbände oder Pflaster. Die Flure und Wartebereiche waren voller Menschen, die langsam und wohl überlegt einen Fuß vor den anderen setzten. Sie blickten verloren oder verwirrt drein. Thorne fragte sich, wie er auf sie wirkte.
Wahrscheinlich ziemlich ähnlich.
Schweigend gingen sie an einer Kantine vorbei; das Geschnatter erinnerte Thorne eher an eine Fabrik oder ein großes Bürogebäude. Ob sie wohl jemals diesen Geruch aus dem Essen herausbekommen?
»Was ist mit den Ärzten? Sind wir auf Ihrer Liste?«
Eine lächerliche Sekunde lang fragte er sich, ob sie ihn anmachte. Dann erinnerte er sich an die Gesichter dieser verdammten Medizinstudenten. Dies hier war eine Frau, bei der er höllisch aufpassen musste. »Na ja, im Moment nicht. Es gibt zu viele Ärzte, die uns über diese Sache auf dem Laufenden halten müssen. Angefangen bei
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