Tony Mendez 02 - Eine verräterische Spur
verrückt?
Um etwas Normales zu tun, putzte sie sich die Zähne und zog das Gummiband aus ihren Haaren. Heute hatte sie ihre Haare offen gelassen und nur ein paar Strähnen zu einem Pferdeschwanz hochgebunden, der wie ein blonder Puschel leicht schräg auf ihrem Kopf saß. Sie zog sich gern so an wie ihre Lieblingssängerinnen: Madonna, Cyndi Lauper, die Mädchen von den Bangles. Obwohl sie sich in letzter Zeit nicht mehr so viel Mühe damit gab wie früher.
Jeder sagte, sie sehe genauso aus wie ihre Mutter, was auch stimmte. Sie hatten die gleichen dichten Locken in allen möglichen Blondtönen. Sie hatten die gleichen auffallend blauen Augen. Seit der fünften Klasse war Wendy beinahe fünf Zentimeter gewachsen. Noch ein, zwei Jahre und sie wäre genauso groß wie ihre Mutter.
Als Wendy unter ihre Bettdecke kroch, schwor sie sich, nicht auch noch genauso unglücklich zu werden.
Sie kuschelte sich an ihren braunen Lieblingsteddy und gab ihm einen Kuss auf die Schnauze. Wenn sie groß war, würde sie eine berühmte Journalistin werden und sie würde niemals heiraten – jedenfalls nicht, bevor ihr der absolut perfekte Mann begegnete.
Sie drückte ihre Wange an den Kopf des Teddys und flüsterte seinen Namen, als sie die Augen schloss: »Tommy.«
18
Auf der anderen Seite der Stadt, in der psychiatrischen Klinik, dachte Dennis Farman ebenfalls darüber nach, was die Leute verrückt werden ließ.
Er saß in seinem Zimmer auf dem Bett, ganz allein, weil es hier außer ihm keine Kinder gab und weil ihn die Leute für gefährlich hielten und bestimmt glaubten, dass er einen Zimmergenossen im Schlaf umbringen würde. Das Licht in seinem Zimmer war gelöscht worden, aber aus dem Flur drang ein gelber Schimmer herein, und vom Parkplatz her fiel ein bläulicher Lichtschein durch das Fenster.
Er hatte nichts von seinen wertvollen Besitztümern bei sich. Das Taschenmesser, das er seinem Vater aus der Kommode geklaut hatte – das, mit dem er auf Cody losgegangen war –, hatten ihm die Detectives weggenommen. Er hatte an diesem Tag alle seine Schätze in seinen Rucksack gepackt, einschließlich des vertrockneten Kopfes einer Klapperschlange, die ein Gärtner vor seinen Augen mit einem Spaten getötet hatte. Nach seiner Verhaftung hatte er den Rucksack nicht zurückbekommen.
Das Messer war ihm am wichtigsten gewesen. Er hatte immer so getan, als hätte es ihm sein Vater zu seinem neunten Geburtstag geschenkt. In seiner Phantasie hatte er sich ausgemalt, wie sein Vater ihm beibrachte, damit umzugehen, wie sie miteinander zelten fuhren und das Messer benutzten, um Äste abzuschneiden und Fische auszunehmen. In Wahrheit hatte ihm sein Vater niemals etwas geschenkt, nicht einmal zum Geburtstag.
Als Dennis Miss Navarre gefragt hatte, wann er sein Messer zurückbekäme, hatte sie ihn angesehen, als wäre er verrückt. Vielleicht lag das in der Familie. Immerhin hatte man ihn in die Psychiatrie gesperrt.
Dennis hatte seinen Vater nie für verrückt gehalten, nur für gemein. Aber zum Schluss hatte jeder gesagt, dass er den Verstand verloren haben musste, um das zu tun, was er getan hatte.
Die Leute kamen nicht auf die Idee, dass Dennis wissen könnte, was geschehen war, aber er wusste es. Er hatte es niemandem erzählt, aber er war da gewesen in jener Nacht, als sein Vater seine Mutter zu Tode geprügelt hatte. Er hatte sich in seinem Zimmer versteckt und jeden Schlag gehört, jede Beschimpfung, jeden Schrei. Es war nicht das erste Mal gewesen (deshalb glaubte er auch nicht, dass sein Vater verrückt geworden war, sondern wie so oft einfach betrunken und gemein), und er hatte auch nicht gedacht, dass seine Mutter sterben würde, aber sie war gestorben.
Den Rest der Ereignisse, die ihn zur Waise gemacht hatten, hatte er in Bruchstücken von Leuten aufgeschnappt, die nicht mitbekamen, dass er sie belauschte. Das war eins der Dinge, die er wirklich gut konnte.
Als es passierte, war er in einem Zimmer beim Sheriff eingesperrt gewesen, weil sich alle so darüber aufregten, dass er auf Cody eingestochen hatte – der noch nicht mal gestorben war . Irgend so eine Tante vom Jugendamt hatte ihn dazu bringen wollen, dass er Bilder über seine Gefühle malte. Was sollte der Scheiß denn? Man konnte doch kein Bild von etwas malen, das man nicht sehen konnte.
Jedenfalls war sein Vater ins Büro des Sheriffs gekommen und hatte den Sheriff als Geisel genommen und damit gedroht, ihn umzubringen. Aber am Ende hatte er sich selbst
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