Magical
Vom Mädchen zur Frau zur Hexe:
England, 1666
Als mir Mr Howe von der Straße her zurief, ob ich irgendwelche Toten zu begraben hätte, sagte ich Ja. Es war keine schwere Arbeit für mich, jedenfalls nicht körperlich, auch wenn ich erst vierzehn und klein für mein Alter war. Die kleine Lizzie, meine jüngste Schwester, hatte selbst, bevor die Pest ihren Körper und unser Dorf heimsuchte, nicht viel mehr gewogen als ein Sack Mehl. Nach Monaten der Entbehrung war es sogar noch weniger. Ich hasste es, sie dem Totengräber übergeben zu müssen, aber was hatte ich für eine Wahl? Ich hatte keine Eltern mehr. Ich hatte fast niemanden mehr.
»Bist du jetzt ganz allein, Kendra?«, fragte mich Mr Howe.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Charlie ist noch da. Und Charlie wird es schaffen.«
Er schien daran zu zweifeln, aber er sagte nur: »Es tut mir leid.«
Ich nickte und wartete nicht ab, bis er Lizzie mitnahm. Das konnte ich nicht. Ich hatte mich inzwischen an denTod gewöhnt, genug zumindest, um mich nicht länger damit aufzuhalten. Das war der einzige Weg, es zu ertragen.
Die Erste, die uns verlassen hatte, war meine ältere Schwester Sadie gewesen. Wie wir geweint, wie wir um sie getrauert hatten. Nicht nur, weil Sadie lieb und nett war, sondern auch, weil sie in einem Monat Henry heiraten sollte, den Sohn des Milchmanns, der unsere große Familie mit bitter benötigter Milch versorgt hätte. Der junge Henry war nicht einmal zu Sadies Beerdigung erschienen. Er hatte zu große Angst, sich ebenfalls mit der schrecklichen Krankheit anzustecken. Aber er bekam sie trotzdem und war zwei Monate später auch nicht mehr da – eine zu lange Zeit, um Sadie dafür die Schuld zu geben. Die Leute in unserem Dorf suchten jemanden, den sie dafür verantwortlich machen konnten.
Der Pastor hatte uns angewiesen, die Beerdigungen draußen vor dem Dorf abzuhalten, damit wir die Krankheit nicht verbreiten. Außerdem hatte er gesagt, wir sollten im Dorf bleiben, damit wir die Pest nicht an andere Orte trügen, aber wer reich war, war trotzdem gegangen. Die Reichen machten, was sie wollten. Der Pastor lebte noch, aber seine Frau war gestorben.
Als Nächster war mein jüngster Bruder John an der Reihe, er war noch ein Baby, wir kannten ihn kaum. Trotzdem sagten wir ein paar Worte an seinem Grab. Dass Babys starben, war traurig, aber nicht ungewöhnlich.
Als Mutter starb, gab es kein Begräbnis, keine Zeit fürTotengebete, nur noch Gebete für die Lebenden – auf dass sie am Leben blieben.
Blieben sie aber nicht. Die vergangenen Monate hatten aus Erbrechen, Fieber und schwellenden Beulen auf Armen und Beinen bestanden, aus Klagen über schmerzende Glieder, aus aufgesprungenen Lippen, die um Wasser und um den Tod flehten. So viel Tod. Alle, die ich liebte, wurden aus dem Leben gerissen, einer nach dem anderen. Währenddessen hörte ich auf, ein Kind zu sein, ich wurde eine Frau. Eine traurige Frau. Am Ende verlor ich meinen Vater und noch einen Bruder und eine Schwester. Ich schaute nach, ob die Henne gelegt hatte, ich kümmerte mich um die Kuh – und dazwischen wurden ihre Leichen hinausgeschleppt.
Zwei Tage zuvor hatte Mr Howe James’ Leiche mitgenommen, was mich besonders schwer hätte treffen müssen, denn James war mein Zwilling. Ich war sein Schatten, noch bevor wir geboren worden waren. Aber ich hatte keinen Kopf für James oder irgendeinen der anderen. Hätte ich an irgendetwas anderes gedacht als daran, wie ich an Essen käme, hätte ich daran gedacht, warum ich allein das zweifelhafte Geschenk der Gesundheit erhalten hatte, dann hätte ich mich neben diese Leichen, die einst meine Lieben waren, gelegt und aufgegeben. Doch der gütige Gott – wenn er überhaupt gütig war – hielt es wohl nicht für angebracht, mich sterben zu lassen. Er hielt es für angebracht, dass ich wenig Milch von der Kuh und keine Eier vom Huhn bekam und in einem Haus, das früher neun beherbergt hatte und dessen Luxus jetzt nur noch von zweien in Anspruch genommen wurde, für meinen kranken Bruder sorgte; meinen inzwischen einzigen Bruder Charlie, der acht Jahre alt war.
Ich hatte gelernt, dass Menschen sich an alles gewöhnen können.
Heute Morgen, als ich hinausging, stellte ich fest, dass das Huhn tot war. Und mit einem Mal brachen sämtliche Verluste, die ich erlitten hatte, plötzlich über mich herein. Ich setzte mich in das karge Heu, verbarg den Kopf in den Händen und schluchzte.
Und dann rupfte ich dieses dumme Huhn, schnitt es in
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