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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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halbes Leben lang danach gesucht, immer wieder, während seiner Arbeit hier im Institut. Wenn er es noch finden wollte, war heute vielleicht seine letzte Chance.
    Dann ist da noch dieser eine Raum zwischen all den Räumen,von dem sie nicht weiß, ob sie ihn suchen soll und finden möchte. Den einen Raum in diesem Haus, der Bernhards und ihr Raum war auf eine ganz besondere Weise. Wenn sie die Augen schließt, sieht sie zuerst die Schreibmaschine auf dem Tisch, die Schreibmaschine mit kyrillischen Buchstaben. Regale voller Bücher, den abgedunkelten Katalograum, den Staub, der im Sonnenstrahl flirrte, der auf Bernhards damals noch braunes Haar fiel. Noch jetzt, nach einem halben Jahrhundert, wird ihr schwindlig bei den Bildern, die auf die Bücherrücken und den Sonnenstrahl folgen.
    Sie beschließt, Bernhard im ganzen Gebäude zu suchen. Vor den Aufzügen stauen sich die Wartenden, doch im Treppenhaus ist sie allein. Sie fängt ganz unten im Untergeschoss an und schaut in alle Räume. Im Kinosaal laufen Filme über die Clubs in Soho und Manhattan, die dem Soho House Berlin Pate gestanden haben. »In the Mood for Life« heißt das Filmprogramm, Englisch ohne Untertitel. Nichts für Bernhard. Aber das Kino ist schön, rote Samtvorhänge und breite Plüschsessel, in denen die Zuschauer versinken, während die Bilder über die Leinwand flackern. Und in der Ecke, sie traut ihren Augen kaum, steht ein alter Popcornautomat. Genau so ein Popcornautomat, wie sie ihn damals in der Femina-Bar betrachtet hat, bis ein GI kam und ihr eine knisternde Tüte in die Hand drückte.
    Am Eingang zum Wellnessbereich erklärt man ihr, dass der Aufenthalt nur Clubmitgliedern gestattet sei. Also ebenfalls kein Ort für Bernhard. Da erst kommt ihr der Gedanke, und einen Moment knicken ihr die Knie ein, sodass sie sich an der Theke festhalten muss – vielleicht lassen sie Bernhard gar nicht hinein! Offiziell eingeladen war er ja nicht. Vermutlich hatte es Bernhard gekränkt, dass man Leute wie ihn nicht einlud, die jahrzehntelang hier gearbeitet hatten, Zeitzeugen einer Geschichte, die man womöglich lieber vergessen wollte.
    Schritt für Schritt und Stufe für Stufe macht sie sich an denlangen Aufstieg bis zur Dachterrasse. Im zweiten Stock hält sie einen Moment inne. Es kann doch nicht sein, dass noch ein Geruch von damals in den Räumen hängt, ein Geruch nach Möbelpolitur und Holz, Rasierwasser und Papier? Hier hatten Heinrich Grünberg und seine leitenden Angestellten ihre Kontore, mit wuchtigen, dunklen Tischen, gekrönt von blitzenden Schreibmaschinen. Zitternd vor Erwartung hatte sie, kaum bis zur Tischkante reichend, auf das Klingeln gewartet, das Klingeln am Ende der Zeile.
    Später ist in Direktor Grünbergs Büro, den halbrunden Raum mit holzgetäfelter Decke, das Politbüro eingezogen, das sich nun in die Bar Politbüro verwandeln soll, wie der Schriftzug über dem Eingang verrät. In der Mitte des Raums unter dem Stern der Neonleuchten stehen ein paar Leute im Kreis und drehen Sektgläser in den Händen. Zwei junge Männer lehnen lässig an den Einbauschränken, in denen sich früher Zeitschriften und Akten stapelten, Sitzungsprotokolle des Zentralkomitees der SED. Einer der beiden Männer zeigt auf die gegenüberliegende Wand. Der andere fasst nach dessen Hand und ruft: »Aber doch kein Bild, chéri , das ruiniert ja die ganze Aura!«
    Elsa muss lachen. Mehrere Köpfe wenden sich ihr zu. »Warum denn kein Bild?«, fragt Elsa. »Irgendwo steht hier bestimmt noch ein schickes Porträt von Wilhelm Pieck im Besenschrank.« Als sie hinausgeht, hört sie jemanden sagen: »Du, das ist eine geniale Idee von der Alten!«
    Wo jetzt die Offices sind, die Lofts und Lounges, waren nach Kaufhauskontoren und Hitlerjugend die Büros von Wilhelm Pieck, Otto Grotewohl und anderen SED-Größen eingezogen. Da war sie nicht mehr ins Haus hineingekommen, aber Bernhard umso öfter. Jahrzehntelang ging er hier ein und aus, und heute Abend, wo sie ihn braucht, wo ist er? Sie sehnt sich mit jeder Minute mehr nach Bernhards klugen Augen und seinem dichten grauen Haarschopf.
    Auf einmal wird ihr klar, dass es in diesem Trubel nur einen Ort gibt, wo sie ihn finden kann. Wenn er mit seiner Scheu vor Menschenmengen es irgendwo aushielt, dann auf der Dachterrasse, wo man die Augen in die Ferne schweifen lassen kann unter einem freien Himmel. Und womöglich, mit viel Glück, eine rauchen. Sie geht zurück ins Treppenhaus und macht sich an den Aufstieg.

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