Torstraße 1
nach Elsa. Er hätte sich nicht einfach tot stellen dürfen. Nun will er nichts mehr, als Elsa wiedersehen. Er greift in die Tasche seines Jacketts und fühlt nach dem kleinen Päckchen.
Bernhard dreht sich im Gehen um, schaut nun wie alle anderen nach vorne und hebt den Blick. »Soho House Berlin«, murmelt er und starrt auf die frisch renovierte Fassade, über die in hektischer Betriebsamkeit Leuchtbuchstaben tanzen. Mal sehen, ob die mehr Glück haben als all ihre Vorgänger. Er reiht sich ein in die Warteschlange vor dem Eingang.
»Ein Restaurant wollen sie hineinbauen«, sagt der junge Mann vor ihm zu seiner Begleiterin, »ein italienisches. Da dürfen dann alle rein. Aber der Rest bleibt zum Glück members only .«
Da ist Bernhard aber froh und erleichtert, dass auch Leute wie er hier zum Italiener dürfen. Denn er mag Pasta und liebtPesto, aber es macht ihm keinen großen Spaß, für sich allein zu kochen. Anders war es, als er noch für zwei gekocht hat, für sich und Elisa. Seine Elisa, deren Name so ähnlich klang wie Elsa. Inzwischen ist auch Elisa Geschichte. »Komm endlich hier an, Bernhard«, hat sie gesagt. »Die Vergangenheit ist vorbei und der Sozialismus untergegangen.« Als ob er das nicht wüsste. Aber wo soll man hin mit vierzig Jahren Leben? Hat noch keiner das passende Skalpell erfunden, um die einfach aus dem Kopf zu schneiden. Obwohl, denkt er, eine Menge Leute scheinen es ja hingekriegt zu haben. Vielleicht sollte ich die mal fragen. Vielleicht ist von denen sogar heute jemand hier.
Bernhard ist innerlich wieder nach Rückwärtsgang zumute. Doch wenn Elsa kommt, sagt er sich, kann alles noch gut werden. Vielleicht können wir uns zusammen ein bisschen lustig machen über diese Ansammlung von feinem Tuch und Designerturnschuhen. Turnschuhe heißen die natürlich nicht, es turnt ja auch heute niemand mehr. Das neue Wort fällt ihm jetzt nicht ein. Immerhin, er kommt sich nicht unpassend gekleidet vor. Dafür hat Luise gesorgt. »Vater«, hat sie gesagt, »wenn ich dir eine Einladung für die Eröffnungsparty beschaffe, gehen wir vorher einkaufen. Du brauchst einen Anzug und Schuhe.« Ein Jackett hatte er zuletzt getragen, als sie in diesem Gebäude das Institut abgewickelt haben. Fast auf den Tag genau vor siebzehn Jahren. Er hat niemanden wiedergesehen seit diesem letzten Tag.
Und heute, an seinem achtzigsten Geburtstag, betritt er es also wieder, das Institut, aus dem ein Privatclub geworden ist. War mit seiner Tochter einen neuen Anzug und Schuhe kaufen gegangen, um an die Einladung zu kommen, obwohl er noch nicht einmal wusste, ob er zur Party gehen wollte. Er musste zugeben, dass dies der erste Anzug seines Lebens war, der wirklich passte. »Jetzt, wo es nicht mehr wichtig ist«, hat er draußen zu Luise gesagt, »habe ich plötzlich einen Arsch in der Hose.«Endlich ist Bernhard am Eingang angekommen. Er fischt die Einladung für die Eröffnungsparty aus der Innentasche seines Jacketts – Luise hat Wort gehalten – und wird anstandslos durchgelassen. Drinnen scheint die Party schon in vollem Gange, obwohl draußen noch so viele Menschen stehen. Er dreht sich einmal vorsichtig im Kreis und bleibt stehen, weil er Elsa entdeckt hat. Doch die weißhaarige Frau, die er im Augenwinkel zu sehen geglaubt hat, entpuppt sich als eine Weißblonde.
Bernhard schaut sich noch einmal um. Rohe Wände, an denen abstrakte Bilder hängen, unverputzte Säulen, der provisorisch wirkende Empfangstresen. Eine lange rote Couch, sicher eine Extraanfertigung zu extraordinärem Preis. Nicht übel, wie sie da steht, als wäre es im Sinne der Betreiber, wenn sich hier zehn Leute nebeneinander niederließen, um ein wenig zu plaudern. Sehr schick und modern alles, aber wo war das alte Haus geblieben? Ob es seinem Vater heute hier gefallen würde? Wilhelm war immer so stolz darauf gewesen, an diesem Haus mitgebaut zu haben.
Sein Vater war in sein Kaufhaus Jonass verliebt, das seiner Ansicht nach nur zu einem Zweck gebaut war: Im Jonass konnten sich Menschen mit nicht allzu viel Geld ihre kleinen und größeren Wünsche erfüllen. Sie betreten das Kaufhaus und werden verzaubert, so hatte es Wilhelm immer beschrieben. Und hatte gelitten wie ein Hund, als die Nazis aus dem Kaufhaus heraus die reichsdeutsche Jugend führten und verführten. Auch als die SED einzog und später das Institut für Marxismus-Leninismus, haderte der Vater mit den Dingen. Das sei ein Kaufhaus, hatte er manchmal gesagt. Er sei für die
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