Torstraße 1
neuen Zeiten und habe lange für sie gekämpft. Aber es wäre doch schön, wenn Jonass ein Kaufhaus geblieben wäre. Seinetwegen ein sozialistisches. Dabei schwang Vorwurf in seiner Stimme, als sei sein Sohn mitverantwortlich für das falsche Leben, das sein Haus Jonass führte.
Sein Leben lang hatte er später seinem Sohn beschrieben, wie prächtig die Verkaufsräume und Kontore geworden waren, wie herrlich das Dachgartenrestaurant und wie weit der Blick von der Dachterrasse reichte. »Unendlich weit, Bernhard«, hatte er dann immer gesagt und mit beiden Armen einen Kreis in die Luft gemalt. »Die ganze Stadt liegt einem zu Füßen. Man müsste fliegen können.«
Wenn es ums Jonass ging, konnte Wilhelm romantisch werden. Aber er, Bernhard, mochte am meisten den dramatischen Teil der Erzählung. »Jetzt die Geschichte mit dem Unfall, Vater«, hatte er immer gebettelt, wenn der sich zu sehr im Traum vom Fliegen verlor. »Und dann die Geschichte mit der Geburt.«
Himmel auf Pump
»Heute Eröffnung!«, verkündet ein Plakat unter dem großen Schriftzug JONASS & CO. Auf dem Dach flattern bunte Fähnchen im Wind. Der Baulärm, der noch bis vor Kurzem über die Kreuzung hallte, ist verstummt. Nun summt und brummt es im Innern des Kaufhauses hinter dem verschlossenen Tor.
In der weiten Eingangshalle laufen Lieferanten, Dekorateure, Verkäuferinnen durcheinander, zwischen ihnen kreuzen die Inhaber von einem Schauplatz zum nächsten. Heinrich Grünberg dirigiert Menschen mit Kisten und Kästen durch den Saal, die Lampen gehören in diese Ecke, nein, nicht zu den Uhren, Herrgottnochmal, und die Lederwaren auf die Tische im Seitenflügel rechts, bitte! Er legt gerade beim Aufbau eines Ausstellungstisches mit Hand an, als ein Fotograf und ein Journalist auf ihn zustürzen. Grünberg klopft die Hände an der Hose ab und begrüßt die Herren von der Presse. »Sie sind zu früh dran, meine Herren, kommen Sie doch bitte heute Abend wieder.« Dann winkt er eine Frau in grauem Kostüm herbei. »Frau Kurz, setzen Sie die beiden auf die Gästeliste!«
Alice Grünberg umkreist die Tafel in der Mitte der Halle, die sich unter Porzellan und Kristallgläsern zu biegen scheint. Sie nimmt einem Mädchen mit rotfleckigen Wangen die Serviette aus der Hand, faltet sie in Windeseile zu einem Fächer und setzt ihn auf den Teller. So geht das! Hinter dem Rücken seiner Mutter wirft Harry Grünberg dem Mädchen eine Kusshand zu, worauf ihre Wangen noch röter werden. Pfeifend läuft er durchdie Halle und hält bei den Musikern inne, die in einer Ecke ihre Instrumente stimmen. Er streichelt über den glänzenden Hals einer Tuba und will das Instrument zur Brust nehmen, als sein Vater herbeieilt und gegen den Lärm anbrüllt: »Marsch, Marsch, auf die Dachterrasse! Da spielt die Musik.«
Harry zwinkert dem verschreckten Tubisten zu, schlendert weiter zu den eigens zur Eröffnung aufgebauten Kühlschränken und nimmt einer jungen Frau mit Verkäuferinnenhäubchen eine Flasche aus der Hand. »Komm, Elsie«, lächelt er sie an und lässt den Korken knallen, »die sind doch alle völlig meschugge!« Er gießt zwei Gläser randvoll, zieht Elsie hinter eine Säule und reicht ihr eines. Dann stößt er mit ihr an und fragt mit leichtem Zittern in der Stimme, das freudige Erwartung sein kann oder auch Furcht: »Wird Vicky kommen?«
Schon von Weitem sieht Vicky das riesige Gebäude, als sie sich der Kreuzung zur Lothringer Straße nähert. Heute, an diesem warmen, windigen Tag im Juni, wird dort das Kaufhaus Jonass eröffnet. Dieses Haus wird ihr neuer Arbeitsplatz werden, dieser Weg ihr täglicher Weg ins Büro. Es war anständig von Herrn Grünberg, sie nicht hinauszuwerfen. Eine kleine Stenotypistin, die ein Kind erwartet und keinen Mann dazu hat. Und das bei der heutigen Arbeitslosigkeit.
Sie hat dem Haus beim Wachsen zugeschaut in den vergangenen Monaten, Stein um Stein und Stock um Stock wuchsen dort inmitten von Gerüsten und Maschinen, Krach und Geschäftigkeit. Zwischendecken, Rohre und Leitungen wurden in und um das Stahlskelett gelegt. Und während das Haus wuchs, ist auch in ihr etwas gewachsen, Fleisch und Blut, Sehnen und Nerven um zarte Knochen. Seit Wochen freut sie sich auf diesen Tag, an dem das Jonass zum Leben erwacht. An dem sie Harry dorttreffen wird. Und sie fürchtet sich auch. Dass man sie zur Eröffnung vielleicht doch nicht hineinlässt. Dass sie Harry nicht treffen wird.
Sie fasst nach ihrem Bauch und stützt sich an die
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