Torte mit Staebchen
Blöken aus, und die Bordkapelle intonierte einen flotten Marsch. Die riesigen Schiffsschrauben wirbelten das Wasser zu weißer Gischt. Am Kai machten Hafenarbeiter die armdicken Leinen von den Pollern los. Inge spürte den gewaltigen Schiffsleib unter sich beben, das Stampfen der Maschinen ließ ihre Fußsohlen vibrieren. Sie schaute zurück auf die Hafenanlage und die steilen Hänge dahinter. Dort stapelten sich Häuser bis hoch hinauf, dazwischen reckten Palmen ihre Wuschelköpfe. Die schonungslose Sonne des südlichen Mittags ließ jedes Detail deutlich hervortreten. Das Halbrund der Berge bildete die gut ausgeleuchtete Kulisse für diesen dramatischen Moment, den sie wie von einem Logenplatz mitverfolgte. Jetzt spielte die Kapelle »Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus …« Aber statt des großen Auftritts wurde die Kulisse nach hinten weggezogen; zwischen Kaimauer und Schiffswand klaffte eine Lücke, die sich rasch mit schmutzigem Hafenwasser füllte und immer größer wurde. Eben noch unbeteiligter Zuschauer, trafen Inge die Ereignisse plötzlich wie ein Magenschwinger. Hilfe suchend blickte sie nach links und rechts zu den Eltern auf: Der Vater mit grauem Gesicht, denBlick starr geradeaus; die Mutter das weiße Batisttaschentuch an den Mund gepresst, jeder ganz und gar mit sich selbst beschäftigt. Kein vielversprechender Anfang für eine Schiffsreise. Und Inge? Die wusste natürlich, dass es der Dampfer war, der sich mühsam in Bewegung setzte. Dennoch kam es ihr vor, als würden Hafen und Berge sich von ihr entfernen. Fassungslos sah sie zu, wie man ihr das Land wegzog.
***
Zurück in der Geborgenheit der holzgetäfelten Kabine nahm der Vater zum ersten Mal seit Beginn der langen Reise den Hut ab. Erschöpft strich er sich mit den Handflächen über den kahlen Schädel, auf dem sich dunkel die ersten nachwachsenden Haarstoppeln abzeichneten.
»Herrje, Marianne, wo sind wir denn hier gelandet? Ich bin überhaupt noch nicht zum Denken gekommen, seit du mich da rausgeholt hast. Wieso dieser unnötige Luxus?«, seufzte er, nachdem sich die kleine Familie um den Tisch versammelt und aus der Wasserkaraffe bedient hatte.
»Was blieb mir anderes übrig?«, entgegnete seine Frau. »Alles war über Monate ausgebucht, und die Passagen in der ersten Klasse hab ich auch nur bekommen, weil dieser arme Junge an Scharlach erkrankt ist und seine Familie nicht fahren konnte. Aber wo wir nun schon mal hier sind, können wir’s ebenso gut genießen. Ein bisschen Luxus kann dir nicht schaden, nach allem, was du durchgemacht hast.«
Wilhelm Finkelstein blickte mit einer Mischung aus Bewunderung und Resignation zu seiner Frau hinüber.
»Auf dem Schiff gibt’s sogar ein Kino und ein Schwimmbad«, quasselte Inge sich dazwischen. Niemand beachtete ihren Einwurf.
»Ich mach dir ja keine Vorwürfe, Marianne. Es ist nur alles so schnell gegangen. Schanghai war für mich bisher bloß ein Punkt auf der Landkarte.«
»Für mich ja auch, Willi.«
»Aber nicht für mich«, bemerkte Inge, um dann auch gleich weit auszuholen: »Schanghai ist eine große Hafenstadt an einem Fluss, der kurz darauf ins Meer mündet«, sprudelte sie los. »Da ist alles groß und laut und bunt. Und man kann auf der Straße essen, und die Kinder müssen nicht so früh ins Bett wie in Deutschland. Statt mit dem Taxi fährt man in einer Rikscha, die wird von einem Mann gezogen. Und wenn man eine mieten will, winkt man mit der Hand. Aber so, mit den Fingern nach unten.« Sie fuchtelte mit der Hand vor den Gesichtern ihrer verblüfften Eltern. »Und dazu sagt man
láilái
. Da muss die Stimme ein bisschen nach oben gehen. Habt ihr gewusst, dass das Chinesische vier verschiedene Töne hat? Wenn man den falschen erwischt, bedeutet es ganz was anderes. Man kann sich furchtbar blamieren. Und zur Begrüßung fragen sich die Leute, ob sie schon gegessen haben. Ist das nicht lustig? Aber es stimmt überhaupt nicht, dass alle Chinesen Hunde und Vogelnester essen.« Ganz außer Atem hielt Inge mit ihrer Belehrung inne.
»Woher weißt du denn das alles?« Die Eltern sahen ihre Tochter erstaunt an.
»Von Ina, die kommt doch aus Schanghai. Sie hat mir viel von Zuhause erzählt, und ein bisschen Chinesisch hat sie mir auch beigebracht.«
Jetzt erinnerte sich ihre Mutter an das kleine Chinesenmädchen, das in Brandenburg als Pflegekind lebte und mit Inge zur Schule gegangen war. Sie war in den Wochen vor der Abreise oft zu Besuch gekommen, doch damals war
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