Torte mit Staebchen
sie selbst viel zu beschäftigt gewesen, um sich zu fragen, was die beiden in Inges Zimmer trieben.
»Ich dachte, ihr spielt mit euren Puppen.«
»Dazu hatten wir keine Zeit. Ich musste sie doch über Schanghai ausfragen. Die Puppen hab ich ihr dagelassen, bis auf die Gundel.«
Bei der Erwähnung von Inges Lieblingspuppe warf die Mutter einen hastigen Blick auf ihre Uhr. »Höchste Zeit zum Mittagessen. Paolo hat uns fürs zweite Menü eingetragen, das wird um halb zwei serviert. Deine Sachen kannst du später auspacken, Inge.«
»Soll ich die Stäbchen mitnehmen, die Ina mir geschenkt hat? Dann kann ich schon mal üben.«
»Aber Kind«, kam es mit leisem Vorwurf von der Mutter. »Wir sind doch noch nicht in China.«
»Ich komme nicht mit, Marianne. Ich möchte nicht im Speisesaal essen«, sagte der Vater ruhig, aber bestimmt. »Nicht in diesem Zustand.«
»Dann werden wir eben Paolo bitten, dass er dir was in die Kabine bringt.« Bevor er protestieren konnte, hatte sie schon nach dem Kabinensteward geklingelt, der auch prompt erschien.
»Ich hoffe, die Herreschaften haben sich eingerichtet. Was kann ich für Sie tun?«
»Würden Sie meinem Mann bitte ein leichtes Mittagessen in die Kabine bringen? Eine Bouillon vielleicht.«
»Aber gerne. Er fühlt sich nicht wohl? Benötigen Sie Dottore?«
»Nein, nein, Paolo, nur eine kleine Unpässlichkeit. Wenn Sie uns jetzt vielleicht den Speisesaal zeigen?«
»Mit Veregnügen, Signora. Gentilissima Signorita.« Damit machte er vor Inge eine galante Verbeugung und ging den beiden voraus.
***
Der Speisesaal der ersten Klasse war ein eindrucksvoller, spitz zulaufender Raum ganz vorn am Bug des Schiffes. Durch die großen Panoramascheiben sah Inge zum ersten Mal aufs offene Meer hinaus. Doch ihre Aufmerksamkeit wurde ganz von ihrer unmittelbaren Umgebung in Anspruch genommen: funkelnde Kristalllüster, das Klingen von Gläsern und Besteck, vielsprachiges Stimmengewirr. Paolo bugsierte sie vor sich her durch Tischreihen mit blütenweißen Damasttischdecken. Dann stellte er sie ihren Tischnachbarn vor, einer stattlichen deutschen Dame mit ihrem etwa fünfzehnjährigen, pummeligen Sohn.
»Reisen Sie auch nach Schanghai?«, erkundigte sich Frau Kommerzienrat Schwab, während sie mit beringten Fingern die Serviette über ihren Schoß breitete, der Sohn schaute gelangweilt zum Fenster hinaus.
»Ja«, erwiderte Inges Mutter schlicht.
»Wir leben da schon länger. Mein Mann hat eineFirma dort, und Rüdiger besucht die Kaiser-Wilhelm-Schule. Wir kommen gerade vom Heimaturlaub. Ein Jammer, dass man im Ausland lebt, jetzt, wo die Bewegung Fahrt aufgenommen hat. Wir waren sehr beeindruckt, nicht wahr, Rüdiger?«
Ein beiläufiges Nicken des Sohns, Frau Finkelstein blieb still. Doch die Einsilbigkeit ihres Gegenübers schien Frau Schwab keineswegs zu stören. Sie bedurfte keiner Ermutigung. Wortreich klärte sie ihre Tischnachbarin über die Unsitten der Chinesen auf; wie schmutzig sie seien, dass sie spuckten und feilschten und einen bei jeder Gelegenheit übers Ohr hauten.
»Beim Personal müssen Sie sich besonders vorsehen«, fuhr Frau Schwab fort. »Kaum stellt man einen Küchenboy ein, schon bringt er seine ganze Sippe mit. Und dann die Sache mit dem
cumshaw
. Von dem Geld, das man ihnen für den Einkauf gibt, wandert die Hälfte in die eigene Tasche.«
Inge hörte sich das alles an. Wie gut, dass man mit vollem Mund nicht reden durfte, sonst hätte sie bestimmt widersprochen. Inge hatte schließlich eine chinesische Freundin, die weder schmutzig war noch spuckte. Und anstatt zu feilschen, hatte sie ihr die Essstäbchen aus Elfenbein geschenkt, eines der wenigen Andenken an die Heimat. Wie viel praktischer die jetzt wären, dachte Inge bedauernd, während sie mit der schweren Silbergabel die widerspenstigen Spaghetti zu bändigen suchte. Ihr gegenüber verputzte Rüdiger sein Steak. Fasziniert sah Inge zu, wie er das blutige Fleisch zersägte. Am Gespräch beteiligte er sich nur nach ausdrücklicher Aufforderung seiner Mutter.
Bei Inge bedurfte es solcher Aufforderung nicht. Sie handelte streng nach dem Motto: »Wer nicht fragt, bleibt dumm«, auch wenn ihr das manch strafenden Blick ihrer Mutter einbrachte. Als ihr Teller endlich leer war, konnte sie ihre Neugierde nicht länger zügeln und mischte sich ungefragt ins Gespräch der Erwachsenen ein.
»Können Sie Chinesisch?« Es interessierte sie brennend, wie diese Frau sich mit ihren chinesischen Bediensteten
Weitere Kostenlose Bücher