Torte mit Staebchen
nach.
»Paolo hat mir erzählt, dass wir vor Schanghai noch viele andere Häfen anlaufen«, erzählte Inge, um ein angenehmeres Thema anzuschneiden. »Wir müssen schließlich Kohlen bunkern und Wasser und Vorräte an Bord nehmen.« Die Eltern warfen sich einen amüsierten Blick zu. Ihre Tochter war mit den Erfordernissen der Dampfschifffahrt inzwischen bestens vertraut. »Im Speisesaal gibt’s eine Karte, da sind alle Städte drauf und mit Fähnchen gekennzeichnet: Colombo, Manila, Singapur, Hongkong. Ist das nicht toll? Vielleicht können wir unterwegs mal aussteigen.«
»Wir sind hier nicht auf Urlaub, Inge, auch wenn sich das vielleicht so anfühlt«, mischte der Vater sich ein. Inge hatte gar nicht bemerkt, wie sich seine Stirn in zornige Falten gelegt hatte. »Ich glaube kaum, dass die Briten einem deutschen Juden Zugang zu ihren Kolonien gewähren; ich könnte ja bleiben wollen«, erklärteer bitter. »In ihr Amerika oder England oder Australien haben sie uns ja auch nicht einreisen lassen. Es sei denn, wir hätten dort reiche Verwandte gehabt, die für uns bürgen. Es wundert mich nicht, dass viele der Passagiere auf den unteren Decks auch nach Schanghai wollen. Um dorthin zu kommen, braucht man lediglich Schiffspassagen, aber auch die sind schwer zu bekommen. Wenn deine Mutter nicht gewesen wäre …«, hier versagte Herrn Finkelstein die Stimme.
Inge fiel der kleine Junge in Berlin ein, der jetzt mit Scharlach im Bett lag, während sie an seiner Statt mit ihren Eltern übers Meer fuhr. Doch diesen Gedanken schob sie gleich wieder weg.
»Morgen nach dem Frühstück hab ich mich mit Max verabredet«, verkündete sie stattdessen. »Paolo sagt, dass wir heute Nacht in Port Said anlegen. Und morgen fahren wir durch den Suezkanal. Da sieht man endlich mal was anderes als immer nur Wasser. Wir haben uns schon einen Platz auf dem Promenadendeck gesucht, von wo man eine prima Aussicht hat.«
***
Am nächsten Morgen hielt es Inge kaum am Frühstückstisch. Immer wieder wanderte ihr Blick durch die Panoramascheiben des Speisesaals nach draußen. An der Hafenmole, wo die »Conte Biancamano« über Nacht angelegt hatte, stand die riesige steinerne Statue eines Mannes. In der einen Hand hielt er eine Planskizze, mit der anderen lud er zur Einfahrt in den Kanal ein.
»Wer ist das denn?«, entfuhr es ihr.
»Das ist Ferdinand de Lesseps, der Erbauer des Suezkanals.« Wie auf Knopfdruck wurde der sonst so stille Rüdiger gesprächig. Hier sah er eine Gelegenheit, vor der Kleinen mit seinem Schulwissen zu protzen. »Dieser Durchstich zwischen dem Mittelmeer und dem Golf von Suez hat den Schifffahrtsweg nach Ostasien um viertausendfünfhundert Seemeilen verkürzt. Das heißt, wir kommen einige Tage früher in Schanghai an.«
»Unser Rüdiger hat immer beste Noten in Erdkunde. Kein Wunder, er ist ja schon so viel rumgekommen mit seinen jungen Jahren.« Frau Schwab betrachtete ihren Sohn mit stolzem Mutterlächeln.
Klugscheißer, dachte Inge und ließ den Löffel mit Wucht auf die Spitze ihres Frühstückseis niedersausen. Dann konnte sie es sich aber doch nicht verkneifen zu fragen: »Und vorher? Musste man da um Afrika rumfahren?« Auch Inge konnte man in Erdkunde nichts vormachen.
»Ja. Die Umrundung des Kaps der Guten Hoffnung war nicht nur zeitraubend, sondern auch gefährlich. Stürme und Piraten bedrohten die Handels- und Passagierschiffe«, dozierte Rüdiger weiter. »Jetzt benötigt man für die Durchfahrt der hunderteinundsechzig Kilometer langen Wasserstraße nur noch sechzehn bis achtzehn Stunden, je nach Gegenverkehr.«
»Er liebäugelt mit einer Stellung bei der Handelsmarine«, kommentierte seine Mutter.
Inge ignorierte sie; sie wollte dem neunmalklugenRüdiger noch ein paar nützliche Informationen entlocken, die sie später an Max weitergeben konnte.
»Und wie funktioniert das mit dem Gegenverkehr?«
»Für zwei große Passagierdampfer oder Frachtschiffe ist der Kanal zu schmal. Die können nur an den Ausweichstellen passieren. Die Ausweichstellen heißen
gares
, wie französisch für Bahnhof. Dabei haben die von Süden kommenden Schiffe Vorfahrt.«
»Das heißt, wir müssen ausweichen«, kam es prompt von Inge. Das versprach ja interessant zu werden.
Ganz blöd ist sie nicht, die Kleine, schien der Blick zu sagen, mit dem Rüdiger sie bedachte. Dann wandte er sich wieder seinem Sandwich zu. Die Fragestunde mit dem Experten war beendet.
»Darf ich aufstehen?«, bat Inge die Mutter, sobald
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