Tortenschlacht
zum Ufer hin ab und war völlig verwildert. Seit Jahren hatte sich niemand mehr um die Gestaltung gekümmert. Lediglich Ehefrau Johanna pflegte noch mit rührender Hingabe die Rosenbeete zur Straße hin, stutzte den Rasen, schnitt Hecken und zupfte das Unkraut aus der Zufahrt. Nach vorn raus sah alles tipptopp aus, und was den Park zum Wasser hin anging, tat man im Hause von Lahn so, als wäre die zunehmende Wildnis gewollt. Es hatte ja auch was Romantisches: alte Lindenbäume, die allmählich vom Efeu umgebracht wurden, wucherndes Gestrüpp und ungeschorene Wiesen, die im Sommer voller Blumen standen. Geschwungene Wege mit brüchigen Granitplatten führten zu einer mit Moos überzogenen Marmorpromenade, an deren Anlieger schon lange kein Boot mehr lag. Früher war die Promenade von schmiedeeisernen Kandelabern hell erleuchtet worden, doch längst waren die meisten der Lampen defekt. Nur noch einige wenige spiegelten sich mit ihrem Licht auf den träge dahinfließenden Fluten des Kleinen Wannsees.
Und das sollte nun alles unter den Hammer kommen? Der Sitz der Familie von Lahn seit über hundert Jahren, versteigert zugunsten der Banken? Was sollte aus ihm werden, was aus Johanna und den Töchtern?
Natürlich würden sie nicht hungern müssen. Noch immer war Werner von Lahn als stellvertretender Oppositionsführer ein einflussreicher Mann mit einem sicheren Listenplatz im Berliner Abgeordnetenhaus. Er wurde sogar als künftiger Senator gehandelt. Am zweiten Dezember standen die ersten Gesamtberliner Wahlen an, und die Chancen für einen Machtwechsel waren gut. Konservative Politik war wieder gefragt in der Stadt.
Überhaupt gab es Hoffnung, seit der Kommunismus europaweit zusammengebrochen war. Verlorene Besitzungen rückten wieder in greifbare Nähe. Allein mit den Ostberliner Immobilien konnte von Lahn sich sanieren, und das wussten auch die Banken nur zu gut. Aber sie wollten nicht warten. Sie wollten Tatsachen schaffen, bevor er wieder auf die Beine kam.
Es wird ihnen nicht gelingen! Werner von Lahn war kein Mann, der so leicht aufgab. Sein ganzes Leben lang hatte er mit dem Rücken zur Wand gekämpft. Für ihn gab es nie eine Wahl: Als er die Familiengeschäfte übernahm, gab es nur noch den Niedergang zu verwalten. Zeit seines Lebens war er der Konkursverwalter der eigenen Familie, der Kapitän eines sinkenden Schiffs. Und wie der Seefahrer alles tun muss, um Schiff, Besatzung und Fracht sicher ans Ziel zu bringen, und wenn der Orkan noch so tobt, versuchte auch Werner von Lahn seit über vierzig Jahren, einen rettenden Hafen zu erreichen. Schon immer war er gezwungen gewesen, mit jedem Blatt zu spielen, unterschiedlichste Allianzen einzugehen, jede sich bietende Möglichkeit auszuloten. Das machte ihn verwundbar. Aber er wusste sich zu wehren. Immer noch. Er war noch lange nicht besiegt.
Er atmete tief durch und erhob sich vom wuchtigen Mahagonischreibtisch seines Urgroßvaters. Vor dem barocken Spiegel zwischen den hohen Fenstern prüfte er sein Aussehen. Es war makellos. Der maßgeschneiderte Anzug saß perfekt, die goldene Krawattennadel schimmerte matt im dezenten Licht. Werner von Lahn war auch mit sechzig noch eine imposante Persönlichkeit. Hochgewachsen, schlank, sportlich. Die grauen Augen strahlten Entschlossenheit aus, den unbedingten Willen zu entschiedenem Handeln. Und da er Zögerlichkeit verabscheute, drückte er die Taste auf der Gegensprechanlage.
»Luise? – Ich bin so weit, lassen Sie den Mann reinkommen.«
Kurz darauf öffnete sich die Flügeltür, und Luise Becher ließ den Herrn von der DOMIZIL herein, ein ganz in schwarz gekleideter Herr, der mehr an einen Künstler denn an einen Immobilienkaufmann erinnerte.
»Meyer!« Mit ausgestreckter Hand ging von Lahn auf ihn zu. »Haben Sie Ihr Angebot noch einmal überarbeitet?«
»Gezwungenermaßen«, antwortete Meyer und erwiderte knapp den Händedruck. »Wenn auch nicht so, wie Sie sich das vorgestellt haben.«
»So?« Von Lahn deutete auf eine Gruppe schwerer Lederfauteuils vor dem Kamin. »Möchten Sie etwas trinken, Meyer? Vielleicht einen Cognac?«
»Danke.« Meyer nahm Platz und wartete, bis von Lahn eingeschenkt hatte.
»Luise Becher«, sagte er schließlich, nahm seinen Cognac in Empfang und schwenkte ihn nachdenklich, »Luise Becher ist ein schöner Name. Wie aus einem Gedicht.«
»Ich nehme nicht an«, von Lahn setzte sich ebenfalls, »dass Sie auf diesem späten Treffen bestanden haben, um sich mit mir über meine
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