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Tote gehen nicht

Tote gehen nicht

Titel: Tote gehen nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carola Clasen
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kein noch so kleiner Punkt, kein, Strich, keine Linie, kein Balken, nichts.
    Ansonsten herrschte so eine gähnende Leere nur noch bei ihr selbst und beim Chef, bei Dr. Lutz Winkelmann. Chefarzt Prof. Dr. Röhl trat Ende des Jahres in den Ruhestand und sammelte seine Urlaubstage an, um mit ihnen das Ende seines Schaffens und Wirkens vorziehen zu können. Das war jedermann bekannt. Winkelmanns Grund für sein Zögern interessierte Rita nicht. Wohl aber ihr eigener Urlaub. Als Aushilfe in Teilzeit gingen ihr langsam die Argumente aus. Nicht auszudenken, wenn Schwester Silvia von ihr verlangte, sich einzutragen, bevor Edgar es getan hatte.
    Schlimmer war nur noch die Vorstellung, sie bekäme seinen Eintrag nicht mit, und der Plan hinge eines Tages nicht mehr an der Wand und läge auch nicht wie heute – vorausgesetzt, sie irrte nicht – gut sichtbar auf dem Schreibtisch, sondern sei bereits in der Verwaltung abgegeben, die Kopie unauffindbar in Silvias Schreibtisch eingeschlossen oder die Daten in ihrem Rechner gesichert.
    So wie letztes Jahr, als Rita erst erfuhr, dass Edgar Urlaub hatte, als dieser ihn bereits angetreten hatte. Sie musste sich krankschreiben lassen, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.
    »Jetzt fehlst nur noch du, Rita.« Schwester Silvia reichte ihr die Papierrolle.
    Die Kolleginnen erhoben sich. Die Übergabebesprechung schien beendet zu sein, ohne dass Rita irgendetwas mitbekommen hatte. Sie entschuldigte sich. Als sie das Blatt aufrollte, leuchtete ihr der rote Edding entgegen, mit dem Edgar seinen Urlaub eingetragen hatte:
    10. - 21. Mai.
    Ihr Herz machte einen Sprung. Er hatte den Mai gewählt, den Wonnemonat, den Monat der Verliebten. Und sie glaubte, nein, sie wusste, auch das leuchtende Rot war kein Zufall, das hatte er nur gewählt, damit sie seinen Eintrag nicht übersah. Als könnte das je geschehen. Gleichgültig in welcher Farbe er schrieb, sie hätte es gesehen! Er hätte auch mit unsichtbarer Tinte schreiben können.
    Der Strich, den sie kurz darauf hinter ihrem Namen mit einem schwarzen, unauffälligen Kuli für den gleichen Zeitraum zog, ohne Rücksicht auf die Urlaubszeit der anderen Schwestern auf der Inneren zu nehmen, geriet Rita vor Aufregung etwas wacklig.
    Schwester Silvia trat hinter sie und blickte ihr über die Schulter. »Zwei Wochen im Mai? Na gut, das geht in Ordnung. Aber du hättest fragen sollen.«
    Rita entschuldigte sich. Aber sie hätte nicht fragen können. Ein Nein wäre für sie inakzeptabel gewesen. Schwester Silvia und niemand sonst hatte eine Vorstellung davon, wie mühsam es schon im Alltag für sie war, seine Wohnung, sein Auto, seinen Kittel und ihn selbst im Auge zu behalten. Und dabei zu vermeiden, dass es irgendjemandem auf Station oder auf der Straße auffiel, geschweige denn ihm selbst. Und stets darauf zu achten, dass sie den gewünschten Abstand zu Edgar einhielt.
    Was sollte sie auf der Inneren, wenn er im Urlaub war? Wenn sie wochenlang nicht wusste, was er wo mit wem tat, während sie Betten abzog, Fieber maß und Bettpfannen reinigte, als sei die Welt in Ordnung? Kaum zu ertragen waren schon diese endlosen Stunden, in denen versetzte Schichten es ihr unmöglich machten, ihn auf dem Gang zu sehen, seinen Gesichtsausdruck und seine Körperhaltung zu deuten, bei seiner Visite unentbehrlich im Hintergrund zu stehen, seine Verordnungen mit konzentrierter Miene zu notieren und die elektrisierende Spannung, die zwischen ihr und ihm in der Luft hing, zu spüren und zu verinnerlichen, so nachhaltig, dass sie bis zum nächsten Tag davon zehren konnte. Sie tat das alles nicht aus freien Stücken.
    »Und dein ständiges Zuspätkommen muss auch aufhören«, hörte Rita Schwester Silvia sagen.
    Sie entschuldigte sich. Silvia hatte recht. Aber sie war morgens immer so müde.
    »Am besten du bringst den Plan sofort runter«, fuhr sie fort.
    Rita rollte den Plan vorsichtig zusammen, ohne auf den Eintrag von Dr. Lutz Winkelmann geachtet zu haben, sonst wäre sie vielleicht nachdenklich geworden. »10. bis 21. Mai«, murmelte sie vor sich hin, während sie durch die Flure und das Treppenhaus lief, als könne sie diesen Zeitraum vergessen, war er doch längst in ihr Gedächtnis eingebrannt wie der Tag, an dem sie ihn zum ersten Mal bemerkte. Da war sie noch Verkäuferin gewesen.
    12. Januar 2005. Ein Montag. Kurz vor halb sechs. Euskirchen, Spiegelstraße, Kaufhof, Herrenabteilung. Ein großer, schlanker, dunkelhaariger Mann stand mit einem roten Hemd und

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