Tote gehen nicht
ihm auf. »Warum fragst du?«
»313 Kilometer, um genau zu sein. Der Tourismusverband Nordeifel hat ihn in 15 Tagesetappen aufgeteilt, das macht zwischen 14 und 29 Kilometer pro Tag«, rechnete Lutz vor. Er zog einen Zettel aus der Hosentasche und fügte hinzu: »Sieh dir das an. So sieht das offiziell aus.«
Edgar studierte den Plan und winkte ab: »Vergiss es. Ich wandere nicht. Wandern ist was für alte Leute.«
»Aber ich wette mit dir, dass du es nicht schaffst, die Etappen statt in 15 nur in zehn Tagen zu gehen«, sagte Lutz.
Edgar blinzelte in die Thekenlampe und schien sich im Kopfrechnen zu üben.
»Und dass du dabei auch noch schneller bist als ich?!«
Edgar betrachtet Lutz misstrauisch. »Du wanderst auch?«
»Logisch. Aber ich habe keine Lust hinter, neben oder vor dir herzulaufen. Ich werde in der Gegenrichtung laufen. Damit wir uns nicht beim Wandern in die Quere kommen. Du gehst von Aachen aus, ich von Trier. Mal sehen, wer zuerst an seinen Zielpunkt kommt.« Lutz drohte mit dem Finger. »Wenn du glaubst, du könntest pfuschen, vergiss es. Wir machen Fotos der Wegkreuzungen und Aussichten, beim Ein- und Auschecken im Hotel lassen wir uns die Zeit abstempeln. Außerdem haben wir die ganze Zeit Kontakt, Junge. Verlaufen kannst du dich nicht, wir gehen mit GPS. Das System kann jeden unserer Schritte archivieren. Und irgendwo treffen wir uns ja auch.«
Edgar runzelte die Stirn. So schlecht hörte sich die Wette gar nicht an, fand er. Wenn er nach einem guten Plan ging und ordentlich ausgestattet war, musste die Strecke zu schaffen zu sein. Eine echte Herausforderung. Etwas dergleichen hatte er noch nie gemacht. Und Neugier und Ehrgeiz meldeten sich in Edgar.
»Halbzeit ist bei Mirbach«, hörte er Lutz sagen. »Wir sehen uns davor oder dahinter, je nachdem, wer von uns schneller ist. Oder wenn wir Pech haben, exakt auf dem Punkt. Ich habe an alles gedacht. Gib zu, mein Plan ist ein logistisches Meisterwerk«.
»Wann gehen wir los?«
»Ja!«, triumphierte Lutz und reckte eine Faust in den Himmel. »Das wollte ich von dir hören.«
»Wann?«, wiederholte Edgar.
»Na ja, wir müssen sehen, wann wir zusammen Urlaub haben können. Hagen will es bis Juli wissen. Wir werden ihm erklären, dass wir unbedingt zehn bis vierzehn Tage gemeinsam frei haben müssen, um das Problem unter uns zu klären. Dr. Bittger kann uns in der Zwischenzeit vertreten, im Notfall kann er uns anrufen, wir machen natürlich telefonische Bereitschaft. Bittger ist ein guter Mann, der wird auch mit einer Ferndiagnose fertig. Aber bete mal lieber, dass es keinen Notfall gibt, sonst bricht das ganze System zusammen.«
»Aber wir sagen Hagen nichts von der Wette, klar?«, verlangte Edgar.
»Kein Wort zu niemandem, logisch«, versicherte Lutz. »Alle würden uns für verrückt halten.«
»Du bist es!« Edgar rutschte von seinem Barhocker und warf ein paar Euroscheine auf die Theke. »Ich geh nach Hause und mache mal einen Plan.«
»Setz dich, Junge.« Lutz zog ihn am Ärmel wieder auf den Hocker und nahm einen zweiten Zettel aus der Hosentasche. »Hier! Ich habe doch längst einen gemacht.«
1. Kapitel
25. Januar, 14.10 Uhr Klinik am Wald, Euskirchen
Ihr Kinn fiel herunter, ihre Finger krampften sich um die Türklinke, ihre Knie begannen zu zittern. Die Stelle zwischen Fenster und Medikamentenschrank war leer. Rita Funke fühlte sich wie ein Museumsdirektor, dem ein wertvolles Bild gestohlen wurde. Nervös flogen ihre Blicke die übrigen Wände des Schwesternzimmers entlang und entdeckten schließlich auf dem Schreibtisch der Stationsschwester eine Papierrolle, die dem Format nach das vermisste Objekt sein konnte, nein, musste – sie wollte es so.
Statt einer Begrüßung brachte sie nur ein Krächzen zustande. Schwester Silvia blickte auf ihre Armbanduhr, schüttelte resigniert den Kopf und setzte die Übergabebesprechung mit den anderen Schwestern fort. Rita streifte hastig im Nebenraum die weiße Arbeitskleidung über, kam zurück, setzte sich zu der Runde und hypnotisierte mit finsterer Miene die Papierrolle.
Seit fast vier Wochen hatte nicht nur ihr erster, sondern auch ihr letzter Blick immer nur diesem verfluchten Plan gegolten. Öfter als nötig war sie im Laufe einer Schicht vor ihm stehen geblieben. Während sie vorgab, in einer Schublade zu kramen, fuhr sie mit dem Finger die eine Zeile entlang und vergewisserte sich: ER hatte sich noch immer nicht eingetragen. Zwölf Monate, zweiundfünfzig Wochen, 365 Tage,
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