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Tote Mädchen

Tote Mädchen

Titel: Tote Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Calder
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schwankten Kokospalmen im Rhythmus fremdartiger Gezeiten. Primavera war hier, sogar hier, ihr Hunger der eines Hundes, der an den Überresten der Welt nagt; ihre Verstohlenheit das Trippeln einer Kakerlake. Flucht! Steh auf ‒ schnell, bevor ... Aber über mit Sternen bedeckte Reisfelder hinweg greift sie nach mir; wie eine Schlange spannt sie ihren Oberkörper, schnellt vor und ...
    Primavera war zwölf gewesen; ihre DNA hatte mit der Rekombination begonnen. Im Unterricht saß sie vor mir, und in ihrem langen blonden Haar zeigten sich die ersten cartierschwarzen Strähnen. Primavera Bobinski. Da sagte eine Mitschülerin, deren Puppenmetamorphose ähnlich weit fortgeschritten war, etwas mit albernem Unterton zu ihr. Primavera schüttelte den Kopf. Während der ganzen Schulstunde ‒ Theologie? Geschichte? Geografie? ‒ tauchten auf ihrem Tisch kleine Zettel auf, an sie weitergereicht von Mädchen, die wie sie den grünen Stern der Rekombinanten trugen. Ich wurde allmählich nervös. Hatte ich Primavera zu lange angestarrt? War ich ihr zu oft die endlosen Korridore entlang gefolgt oder nach dem letzten Läuten durch den Park? Jetzt wurde die Angebetete jedenfalls dazu angestachelt, sich zu rächen. Schließlich gab sie nach, wie um zu zeigen, dass sie durchaus in der Lage war, eine Mutprobe zu bestehen. Sie wartete, bis unser Lehrer den Blick abwandte, drehte sich um, beugte sich ganz nahe zu mir nach hinten, entblößte die Zähne und schlitzte mir mit einem ihrer erst seit Kurzem vorstehenden Eckzähne die Lippe auf. »Oh?«, hauchte sie mit keckem Londoner Akzent, ihr Gesicht eine überhebliche Totenmaske. »Habe ich dir wehgetan?« Ihre Freundinnen lachten. Ich legte die Hand an die Lippen; spürte Blut; wurde puterrot.
    Liebte ich sie immer noch?
    London, Marseille, Bangkok. Vom Seven Stars zu den sieben Weltmeeren. Drei Jahre ist das jetzt her. Flucht! Wir hatten unser Leben, so unbedeutend es auch sein mochte, auf der Flucht verbracht. Aber der Verstand und die Sinne verfügten über Wachtürme, über Maschinengewehre und Bluthunde, vor denen es kein Entrinnen gibt.
    »Nicht so schlecht für dich, Mr Ignatz.«
    »Ein Team, du und Primavera.«
    »Ihr beide aus Land von Sex und Tod.«
    »Kommen in Land des Lächelns!«
    »Du bei Madame bleiben.«
    »Madame sagen, nur noch ein Auftrag, Mr Ignatz.«
    » Jing-jing , Mr Ignatz, du wollen nicht fortgehen.«
    »In Europa alles stinken.«
    Es gab kein Entkommen. Ich war besessen. Und vor was war ich eigentlich geflohen? » Bastard«, flüstert sie, »Scheißkerl, Heuchler, Schnösel. Du hast mich zu dem gemacht, was ich bin. Du hältst dich wohl für etwas Besseres als sie? Als die Drogenfresser. Die Medicine Heads. Die Reinheitsfront. Aber ich weiß, was dir gefällt ...« Ich hebe eine Hand an die Lippen; wieder klebt dort Blut; wieder werde ich rot und spüre Begierde und Hass in mir aufsteigen.
    »Ich komme«, sagte ich zu den Pikadons. »Natürlich komme ich.«
    Uns Engländern ist Fatalismus zur zweiten Natur geworden.

2
Wein und Rosen
    Wir saßen im Londoner , einem neu eröffneten Restaurant mitten im Weird, das die Morbidität der Nachtschwärmer Bangkoks zu befriedigen suchte. »Wenn das Kitos Vorstellung von einem Scherz ist«, sagte Primavera, »dann ...« Ein Aufschrei unterstrich, schrill und mädchenhaft, ihre empörten Worte, gefolgt von sanftem Applaus.
    Die Tische waren um eine kreisförmige Arena herum angeordnet. In dem kleinen O in der Mitte wurde auf drei Seziertischen aus Marmor, die wie die Speichen eines Rades im selben Abstand voneinander platziert waren, Leben und Tod im England unserer Tage eindrücklich zur Schau gestellt. Auf jedem Tisch wand sich eine Gynoide in gespielter Pein nackt auf dem Bauch, die Handgelenke an einen Eisenring gefesselt; aus ihrem Rücken ragte eine funkelnde Nadel.
    Ihr gedämpftes Seufzen verschmolz mit den leise geführten Gesprächen, dem Klappern des Bestecks, dem Knallen der Korken.
    »Soll das heißen, dass du dich gar nicht geweigert hast zu arbeiten? Dass Kito gelogen hat, als sie sagte, dass sie dich nach England zurückschicken würde? Und dass du ebenfalls gelogen hast?« Verzeiht, meine Engel. Das nächste Mal höre ich auf euch.
    Primavera rutschte auf ihrem Stuhl hin und her und stocherte in ihrem Eisbecher, der so blond war wie ihre gefärbten Haare und ihre Haut. »Jetzt reg dich doch nicht so auf! Ich habe dich einfach gern in meiner Nähe. Das war nur eine kleine Notlüge. Und überhaupt hat es

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