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Totenblüte

Totenblüte

Titel: Totenblüte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
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besaß. Mit den glatten, gewölbten Wänden, neben denen der Mühlbach entlangrauschte, sah es selbst ein wenig aus wie ein Boot, ein großes Art-déco-Boot, das an diesem völlig abwegigen Ort inmitten ebenen Ackerlands gestrandet war, den Bug zur Nordsee ausgerichtet, das Heck zu den Hügelketten Northumberlands am Horizont. Auf einer Seite erstreckte sich wie ein Bootsdeck die große Terrasse, die hier, wo es fast nie warm genug zum Draußensitzen wurde, allerdings fast überflüssig war. Felicity liebte das Haus. Von Peters Professorengehalt hätten sie es sich niemals leisten können, doch kurz nachdem Felicity und er geheiratet hatten, waren seine Eltern gestorben, und er hatte ihr ganzes Vermögen geerbt.
    Felicity stellte das Körbchen mit den Erdbeeren auf den Küchentisch, dann warf sie einen Blick in den Garderobenspiegel, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und trug etwas Lippenstift auf. Sie war zwar älter als die Mütter von James’ Freunden, aber er sollte sich auf keinen Fall für sie schämen müssen.
     
    An der Straße blühte der Holunder, sein Duft machte Felicity ganz benommen, sie spürte ihn hinten am Gaumen. Auf den Feldern zu beiden Seiten reifte das Korn heran. DieÄhren standen hier so dicht, dass keine Blumen mehr dazwischenpassten, doch auf ihrem eigenen Feld nahe dem Haus wuchsen Butterblumen, Klee und lila Wicken. Weiter vorn flimmerte der löchrige Asphalt in der Hitze. Die Sonne schien seit drei Tagen ununterbrochen.
    Felicity überlegte, was sie an Peters Geburtstag am Wochenende unternehmen könnten. Freitagabend würden die Jungs zum Essen kommen, die Felicity für sich immer so nannte, obwohl zumindest Samuel in ihrem Alter war. Aber wenn das Wetter hielt, konnten sie am Samstag ein Picknick am Strand machen und einen Ausflug auf die Farne-Inseln, um dort die Papageitaucher und die Trottellummen zu beobachten. Das würde James sicher großen Spaß machen. Felicity blinzelte zum Himmel hinauf, um zu sehen, ob sie womöglich eine nahende Kaltfront spüren, eine noch so kleine Wolke am Horizont ausmachen würde. Aber nein: nichts. Vielleicht, dachte sie, war es sogar warm genug zum Baden; sie stellte sich die sanften Wellen an ihrem Körper vor.
    Als sie das Ende der Straße erreicht hatte, war vom Schulbus noch nichts zu sehen. Felicity schwang sich auf das hölzerne Podest, wo früher die Milchkannen vom Hof auf den Milchwagen warteten. Das Holz war warm und roch nach Harz. Sie stützte sich auf die Ellbogen und hielt das Gesicht in die Sonne.
    In zwei Jahren würde James die Schule wechseln. Davor fürchtete sie sich schon jetzt. Peter wollte ihn auf eine Privatschule in der Stadt schicken, dieselbe Schule, die auch er besucht hatte. Felicity sah die Schüler in ihren gestreiften Blazern häufig in der Metro. Sie fand sie laut und ein bisschen zu selbstbewusst.
    «Aber wie soll er denn da hinkommen?», hatte sie eingewandt, doch ihr eigentlicher Vorbehalt war ein anderer. Siewar überzeugt, dass James auf zu viel Druck nicht gut reagieren würde. Er war ein bedächtiges, verträumtes Kind. Man musste ihn in seinem eigenen Tempo arbeiten lassen. Die Gesamtschule im nächsten Dorf war sicher viel besser für ihn. Selbst das Gymnasium in Morpeth, das ihre anderen Kinder besucht hatten, würde ihn sehr fordern.
    «Ich bringe ihn hin und hole ihn auch wieder ab», hatte Peter erwidert. «Es werden zahlreiche Aktivitäten nach dem Unterricht angeboten, da wird er sich schon beschäftigen können, bis ich aus dem Büro komme.»
    Das gefiel Felicity nun überhaupt nicht. Ihr war die Zeit sehr kostbar, die sie mit James verbrachte, wenn er aus der Schule nach Hause kam. Diese Stunden, davon war sie überzeugt, waren sehr wichtig, um ihn zu verstehen.
    Sie hörte, wie der Bus den Hang hinaufschnaufte, richtete sich auf und blinzelte in die Sonne, dem näher kommenden Fahrzeug entgegen. Am Steuer saß Stan, der alte Busfahrer. Felicity winkte ihm zu, um ihre Enttäuschung zu verbergen. Normalerweise stiegen an dieser Haltestelle nur drei Kinder aus: die beiden Zwillingsmädchen vom Bauernhof und James. Doch heute kletterte noch vor ihnen eine Fremde aus dem Bus, eine junge Frau in Riemchensandalen und einem rot- und goldgemusterten ärmellosen Kleid mit enganliegendem Oberteil und einem weiten, schwingenden Rock. Felicity fand das Kleid wunderschön, den Schnitt und diese leuchtenden Farben – die Jugend von heute schien sonst selbst im Sommer nur Grau oder Schwarz zu tragen. Und als

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