Totenblüte
sie sah, wie die junge Frau James half, seinen Ranzen und die Geige aus dem Bus zu hieven, war sie ihr gleich sympathisch. Die Zwillinge überquerten die Straße und rannten den Feldweg zum Hof hinauf, der Bus fuhr an, und sie blieben leicht verlegen zu dritt vor der Hecke stehen.
«Das ist Miss Marsh», sagte James. «Sie arbeitet bei uns in der Schule.»
Die junge Frau hatte eine große Korbtasche mit Lederriemen über die Schulter gehängt. Als sie Felicity eine sonnengebräunte Hand mit langen, schmalen Fingern hinstreckte, rutschte ihr die Tasche von der Schulter, und Felicity sah, dass einige Ordner und ein Bibliotheksbuch darin waren.
«Sagen Sie bitte Lily zu mir.» Sie hatte eine helle Stimme. «Ich bin noch an der Uni und mache gerade mein letztes Schulpraktikum.» Sie lächelte freundlich. Offenbar ging sie davon aus, dass Felicity sie erwartet hatte.
«Ich habe ihr gesagt, sie kann bei uns im Gartenhaus wohnen», verkündete James und trabte dann, von allen Lasten befreit, die Straße hinauf, ohne sich darum zu kümmern, welche der beiden Frauen seine Sachen trug.
Felicity wusste nicht, was sie sagen sollte.
«Er hat Ihnen doch hoffentlich erzählt, dass ich eine Unterkunft suche?», fragte Lily.
Felicity schüttelte den Kopf.
«Ach herrje, das ist mir jetzt aber peinlich.» Doch Lily wirkte keineswegs peinlich berührt, sondern im Gegenteil bemerkenswert selbstsicher. Sie schien die Sache eher amüsant zu finden. «Ohne Auto ist es ein Albtraum, jeden Tag von Newcastle anzureisen, deshalb hat die Direktorin vor ein paar Tagen bei der Morgenversammlung gefragt, ob jemand eine preiswerte Unterkunft für mich weiß. Wir dachten an eine Pension oder ein Zimmer zur Untermiete. Und gestern hat James mir erzählt, dass Sie Ihr Gartenhaus vermieten. Ich hatte vorhin noch versucht anzurufen, habe Sie aber nicht erreicht. James meinte, Sie seien wohl im Garten, ich solle doch einfach mitkommen. Und da ich annahm, dass er bereits mit Ihnen gesprochen hat … Ich konnte sein Angebot nicht ablehnen …»
«Das kann ich mir vorstellen», gab Felicity ihr recht. «Er ist ausgesprochen hartnäckig.»
«Aber wissen Sie, das ist wirklich nicht weiter schlimm. Es ist so ein schöner Nachmittag. Ich laufe einfach ins nächste Dorf, von dort geht um sechs ein Bus zurück in die Stadt.»
«Trinken Sie doch wenigstens noch einen Tee mit uns», sagte Felicity. «Ich muss mir das erst mal kurz durch den Kopf gehen lassen.»
Sie hatten das Gartenhaus schon gelegentlich vermietet, ein richtiger Erfolg war das aber nie gewesen. Anfangs waren sie noch ganz froh über die zusätzliche Einnahmequelle. Obwohl sie Peters Erbe hatten, war die Hypothek doch eine große Belastung. Später dann, mit drei Kleinkindern, war ihnen die Möglichkeit willkommen, ein Kinder- oder Au-pair-Mädchen dort unterzubringen. Doch die Mädchen beschwerten sich wegen der Kälte, der tropfenden Wasserhähne und der wenig modernen Ausstattung. Und auch Peter und Felicity hatten sich nie ganz wohl damit gefühlt, fremde Leute in so unmittelbarer Nähe zu haben. Die Verantwortung für die Mieterinnen war zusätzlicher Stress. Und obwohl ihnen keine je übermäßig zur Last gefallen war, waren sie doch immer erleichtert, wenn wieder jemand auszog. «Nie wieder», hatte Peter mit Nachdruck erklärt, als die letzte Bewohnerin, eine heimwehkranke junge Schwedin, wieder fort war. Felicity konnte also nicht recht sagen, wie er es finden würde, eine weitere junge Frau auf dem Grundstück zu haben, selbst wenn es nur für die vier verbleibenden Wochen bis zu den Sommerferien sein würde.
Doch als sie sich an den Küchentisch setzten und ein frischer Wind vom Meer die Musselinvorhänge vor dem offenen Fenster blähte, dachte sich Felicity Calvert, dasssie der jungen Frau das Gartenhaus trotzdem vermieten würde, falls es ihr gefiel. Peter würde sich schon damit arrangieren, vor allem, wo es nur für so kurze Zeit war.
James saß zwischen ihnen am Tisch, mit Schere, Klebstoff und diversen Papierschnipseln bewaffnet. Er trank Orangensaft und bastelte an einer Geburtstagskarte für seinen Vater, eine aufwendige Angelegenheit, für die er verschiedene Fotos von Peter aus alten Alben als Collage um eine große, aus Geschenkband und Glitzerfarbe gefertigte 60 anordnete. Lily bewunderte das Kunstwerk und stellte interessierte Fragen, und Felicity spürte, wie sehr sich James über die Zuwendung freute. Sie war der jungen Frau ausgesprochen dankbar
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