Totenblüte
anbieten wollen, sie zumindest bis zur Bushaltestelle im Dorf zu fahren, doch nun drehte Lily sich einfach um und ging über die Wiese davon. Felicity brachte es nicht über sich, ihr hinterherzurufenoder gar nachzulaufen, und so blieb sie einfach stehen und sah ihr nach, bis die rot-goldene Gestalt zwischen dem hohen Gras verschwunden war.
KAPITEL DREI
Julie konnte nicht mehr aufhören zu reden. Sie kam sich ziemlich bescheuert dabei vor, aber die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus, und die dicke Frau von der Polizei saß wie festgeklemmt in dem Sessel, den Sal letztes Jahr bei Delcor im Ausverkauf erstanden hatte, und hörte ihr zu. Sie machte sich keine Notizen, stellte auch keine Fragen. Sie hörte einfach nur zu.
«Er war so ein liebes Baby, ganz anders als Laura. Nach Luke war sie ein echter Schock für mich. Eine richtig unersättliche kleine Mamsell, wenn sie nicht gerade schlief oder schrie, hatte sie immer eine Flasche im Mund. Luke war irgendwie …» Sie hielt inne, um nach den richtigen Worten zu suchen, und die dicke Polizistin schwieg, ließ ihr Zeit zum Nachdenken. «… friedlich. Er lag den ganzen Tag nur da und hat sich die Schatten an der Decke angeschaut. Mit dem Sprechen hat er sich eher schwergetan, aber da war Laura ja schon da, und die Frau vom Gesundheitsdienst meinte, es lag daran. Laura war so lebhaft, hat meine ganze Aufmerksamkeit und Energie beansprucht, da blieb Luke ein bisschen auf der Strecke. Aber die Frau vom Gesundheitsdienst meinte, ich soll mir keine Sorgen machen, er würde schon aufholen, wenn er erst mal im Kindergarten ist. Damals war Geoff auch noch bei uns, aber er war ziemlich viel auf Arbeit unterwegs. Er ist Stuckateur. Im Süden kann man mehr Geld verdienen, deshalb hat er sich von soeiner Agentur vermitteln lassen und schließlich an der Canary Wharf gearbeitet … Für mich war das alles ziemlich viel, zwei kleine Kinder und fast immer ohne Mann.»
Diesmal reagierte die Frau: Sie nickte einmal ganz leicht, um Julie zu zeigen, dass sie verstand.
«Ich habe Luke dann in den Kindergarten hier im Dorf gegeben. Erst wollte er überhaupt nicht hin, sie mussten ihn richtig von mir wegzerren, und wenn ich ihn eine Stunde später abholen kam, hat er immer noch geschluchzt. Das hat mir fast das Herz gebrochen, aber ich habe mir gesagt, es ist richtig so. Er brauchte doch Gesellschaft. Und die Frau vom Gesundheitsdienst fand es auch richtig. Irgendwann hat er sich dann auch dran gewöhnt, zumindest hat er kein Theater mehr gemacht, wenn er hinmusste. Aber er hat mich die ganze Zeit mit diesem Blick angeschaut. Gesagt hat er nichts, aber der Blick sprach Bände: ‹Mach, dass ich da nicht hinmuss, Mum. Bitte mach, dass ich da nicht hinmuss.›» Julie hockte auf dem Boden, die Arme um die angezogenen Knie geschlungen. Sie sah zu der Polizistin hoch, die sie immer noch schweigend musterte, und plötzlich kam ihr der Gedanke, dass diese Frau, so breit und stabil wie ein Fels, vielleicht selbst einmal eine Tragödie durchlitten hatte. Nur deshalb konnte sie jetzt so dasitzen, ohne die ganze Zeit irgendwelche blöden, mitfühlenden Laute von sich zu geben, wie Sal und der Arzt. Diese Frau wusste, dass nichts, was sie sagen konnte, auch nur irgendetwas besser machen würde. Doch der Kummer der Polizistin war Julie im Grunde egal, und es war auch nur ein flüchtiger Gedanke. Sie sprach weiter.
«Zu der Zeit etwa kam Geoff aus London zurück. Mir hat er erzählt, es gäbe keine Arbeit mehr, aber ich wusste von seinem Kumpel, dass er sich mit dem Vorarbeiter gestritten hatte. Geoff macht gute Arbeit, er lässt sich nurnicht gern rumkommandieren. Das war eine ziemlich schwere Zeit für ihn. Er ist nicht dafür gemacht, einfach faul rumzusitzen, außerdem war er gewohnt, viel Geld zu verdienen. Er hat mir eine neue Küche eingebaut, das Bad renoviert. Sie machen sich keine Vorstellung, wie das Haus aussah, als wir hier eingezogen sind. Aber dann ist uns das Geld ausgegangen …»
Sal hatte Tee gekocht. Richtigen Tee, eine ganze Kanne voll, keine einzelnen Teebeutel im Becher, wie Julie es immer machte. Julie griff nach der Kanne auf dem Tablett und goss sich noch eine Tasse ein. Eigentlich hatte sie gar keine Lust mehr auf Tee, aber die Tätigkeit gab ihr Zeit, sich darüber klarzuwerden, was genau sie sagen wollte.
«Es war keine gute Zeit. Geoff war nicht an die Kinder gewöhnt. Als er noch in London arbeitete, war er immer nur ein langes Wochenende im Monat zu
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