Totenblüte
einfach nur stehen und sah sich um, ohne etwas anzufassen. Das Zimmer war so klein, dass Ashworth im Türrahmen stehen geblieben war.
«Ein Taschenkalender wäre nicht schlecht», sagte Vera. «Oder ein Adressbuch.»
«Das hat sie doch sicher alles auf dem Computer?»
«Wahrscheinlich. Aber den überlassen wir mal lieber den Experten.» Den speziell für solche Dinge ausgebildeten Durchsuchungsbeamten. Sie hätten sicher einiges dagegen, wenn Vera Beweismaterial befingerte, bevor sie sich der Sache richtig angenommen hatten. Vera zog die Schreibtischschubladen auf. Ringbücher, Schnellhefter.Auf dem Schreibtisch lagen zwei Bibliotheksausweise, einer für die Universitätsbibliothek und einer für die Northumberland Library. Alles so, wie man es im Zimmer einer mustergültigen Studentin erwarten würde. Und doch war dieses Zimmer ganz anders als die Studentenzimmer, die Vera kannte. Die anderen beiden Zimmer enthielten zumindest persönliche Gegenstände: Familienfotos, Geburtstagskarten, Einladungen. Doch Lily hatte fast drei Jahre in diesem Zimmer gelebt, und trotzdem gab es dort absolut nichts von ihr. Keine Fotos, keine Poster. Genauso gut hätte es ein Zimmer in einer anonymen Pension sein können. Erst als Vera den Kleiderschrank öffnete, bekam sie endlich einen Eindruck von der Toten.
Auf den ersten Blick sah man nur Farben. An einem Haken hingen bernsteinfarbene Perlen, ein Seidenschal in Türkis mit eingewobenen Silberfäden, lange rote Satinhandschuhe. Vera zog einzelne Kleiderbügel hervor: eine weite, brombeerfarbene Samtjacke, ein Kleid in Blau- und Grüntönen, Röcke aus bunt bedruckten Baumwollstoffen. In den Regalfächern lagen gefaltete Blusen, Spitzenunterwäsche. Nichts davon konnte billig gewesen sein.
«Soso», sagte Vera. «Anscheinend hat sie sich gerne aufgedonnert.» Sie warf einen Blick auf die Etiketten in der Jacke und in den Blusen. «Einiges ist von Robbins», bemerkte sie. «Aber keineswegs alles. Das hat sie sicher nicht bloß mit Rabatt bekommen. Sie scheint ihr ganzes Geld für Kleider ausgegeben zu haben.»
Das blieb aber auch alles, was sie über Lily Marsh erfuhren. Nichts sonst in diesem Zimmer half ihnen weiter. Sie warteten in der Küche auf das Durchsuchungsteam, ohne ein Wort zu wechseln, und waren froh, als sie den Transporter draußen vorfahren hörten und endlich gehen konnten.
KAPITEL FÜNFZEHN
Lilys Mitbewohnerinnen waren bei einer Freundin untergekommen, die in derselben Straße wohnte. Noch so ein großes Haus, diesmal allerdings ein Eckhaus mit großem Garten. Es schien nicht in einzelne Wohnungen unterteilt zu sein. Vielleicht eine studentische Hausgemeinschaft? Vera musste zweimal klingeln, bis sie drinnen Schritte hörte und die Tür geöffnet wurde. Die junge Frau, die im Türrahmen stand, war zierlich; sie hatte kurzes, blondes Haar und den Körperbau einer Zehnjährigen, und ihre Augen waren so geschickt geschminkt, dass sie riesengroß wirkten.
«Tut mir leid», sagte sie. «Annie ist nicht da.»
«Ich will auch gar nicht zu Annie.» Vera zückte ihren Polizeiausweis und trat ins Haus, ohne eine Aufforderung abzuwarten. «Ich suche Emma und Louise. Die Freundinnen von Lily.»
Die junge Frau schaute erschrocken drein. «Natürlich. Entschuldigen Sie, dass Sie so lange warten mussten. Annie bringt ihre Tochter zum Ballett, und Lou und ich sind gerade noch hinten im Garten beim Frühstücken. Wir haben beide nicht viel geschlafen, nachdem wir das mit Lily gehört hatten und dann hier unterkriechen mussten. Kommen Sie doch bitte mit. Ich bin übrigens Emma.» Sie war eindeutig nicht von hier. Ihre Stimme klang nach Südengland. Und nach einem reichen Elternhaus.
Sie klapperte ihnen auf ihren Ledersandalen voran und redete dabei ununterbrochen. Anscheinend wohnten hier doch keine Studenten: keine herumfliegenden leeren Bierdosen, keine laute Musik, keine freiliegenden Leitungen oder abblätternden Tapeten. Hier wohnte eine Familie. An der Wand im Flur lehnte ein Kinderfahrrad, an der Pinnwand in der Küche hingen Kinderzeichnungen. Und auchhier sah man das Geld. Falls Annie alleinerziehende Mutter war, hatte sie zumindest keine finanziellen Probleme.
«Studiert Annie auch noch?» Es gab keinen Grund, diese Frage zu stellen, aber Vera war eben von Natur aus neugierig.
«Nein. Sie ist ein Stück älter als ich. Sie lehrt an der Uni, in Lilys Studiengang übrigens. Wir sind über ein paar Ecken verwandt. Ihr Mann ist viel unterwegs, und als wir auf
Weitere Kostenlose Bücher