Totenblüte
schließlich ganz allein mit einem verrückten Vater gelebt. Und ohne Mutter. Sie hatte niemanden, der ihr die Schuluniform bügelte oder sich beim Schulfest zum Kuchenbacken meldete, niemanden, der sie mit zum Friseur genommen oder ihr erklärt hätte, was zu tun ist, wenn die Periode einsetzt. Sie hatte nur Hector, der seine ganze Freizeit damit verbrachte, in den Bergen nach Raubvogelnestern zu suchen, und sich vielmehr für seine vogeleiersammelnden Kumpels zu interessieren schien als für seine hässliche Tochter. Aber es würde nichts bringen, Laura davon zu erzählen. Junge Menschen betrachteten Erwachsene mittleren Alters als fremde Lebensform. Was konnte dieses unglückliche Mädchen da auf dem Bett schon mit Veras Erfahrungen anfangen?
Vorsichtig fasste sie Laura an der Schulter. «Na komm, Herzchen. Niemand macht dir Vorwürfe. Und vielleicht kannst du mir ja doch weiterhelfen, ohne dass du es ahnst.»
Laura drehte sich auf den Rücken, schaute zur Decke hinauf.
«Ich habe seine Freunde doch gar nicht gekannt.»
«Thomas Sharp auch nicht?»
«Der ist tot.»
Vera gab sich Mühe, ruhig zu klingen. Ihr Team in Kimmerston wäre sicher überrascht gewesen, wie viel Geduld sie plötzlich aufbringen konnte. «Aber du hast ihn doch sicher hin und wieder getroffen, wenn er hier war.»
«Ja, manchmal.»
«Wie fandest du ihn?»
Schweigen. Vera fragte sich, ob sie vielleicht zu weit gegangen war.
«Er war ganz okay», antwortete das Mädchen schließlich. «Zumindest besser als die anderen, mit denen Luke so rumzog. Er war witzig.»
Sie hat ihn gemocht, dachte Vera. Vielleicht war sie sogar ein bisschen in ihn verliebt. Ob etwas zwischen ihnen vorgefallen war? Heimliches Knutschen, wenn die Mutter nicht im Haus war? Was Luke wohl dazu gesagt hatte?
«Sein Tod war sicher ein großer Schock für dich.»
«Es war furchtbar.»
«Warst du bei der Beerdigung?»
Sie schüttelte den Kopf. «Mum wollte nicht, dass ich dafür die Schule ausfallen lasse. Sie sagt immer, ich bin die Einzige in der Familie, die was im Kopf hat, das soll ich gefälligst nutzen.» Sie hielt inne. «Aber ich war mit am Fluss, als sie die Blumen ins Wasser gestreut haben.»
«Hat Luke dir erzählt, wie Thomas ertrunken ist?»
«Er hat gesagt, er hätte ihn retten müssen.» Die Antwort kam laut und zornig.
«Glaubst du denn, er hätte ihn retten können?»
«Keine Ahnung. Vielleicht. Wenn er nicht so ’n begriffsstutziger Arsch gewesen wäre. Wenn er sich etwas mehr Mühe gegeben hätte.» Sie fing an zu weinen – offensichtlich aber nicht um ihren Bruder, sondern um seinen Freund.
«Kennst du eine Frau namens Lily Marsh?»
«Ich kenne keine alten Damen.»
«Wie kommst du denn darauf, dass es eine alte Dame ist?»
«Wegen Lily. So heißen doch nur alte Damen.»
So heißen vor allem Blumen, dachte Vera plötzlich, Lilien, und fragte sich, warum ihr dieser Gedanke bisher nicht gekommen war. Hatte das etwas zu bedeuten? Hatte Luke vielleicht einen Zweitnamen? Irgendwas mit Blumen? Gab es überhaupt Jungennamen, die auch Blumen bezeichneten?
Laura wurde unruhig und anscheinend ein bisschen neugierig. «Wer ist das denn jetzt?»
«Keine alte Dame», sagte Vera, «sondern eine Lehramtsstudentin. Hat sie mal bei euch an der Schule ein Praktikum gemacht?»
«Nee.» Laura griff nach der Zeitschrift und tat, als würde sie darin lesen.
Und Vera erkannte, dass sie heute wohl nichts weiter aus ihr herausbekommen würde. «Ich muss jetzt mit deinerMutter reden», sagte sie. «Ruf mich an, falls dir noch irgendetwas einfällt. Ich lege dir meine Karte auf die Fensterbank.»
Julie saß im Wohnzimmer und sah fern. Irgendeine Samstagnachmittag-Spieleshow, blöde Prominente, die ganz normale Familien zu blöden Kunststückchen animierten. Trotz der Hitze draußen trug Julie eine Jogginghose und einen Pulli. Als sie Vera sah, sprang sie auf und schaltete den Fernseher aus, als wäre es ihr peinlich, bei so etwas Profanem ertappt zu werden. Das Zimmer war genauso groß wie das der Nachbarin Sal, aber sehr viel unordentlicher. Und überall Erinnerungen an Luke: Seine Kleider lagen sicher noch in dem Wäschekorb aus Plastik, der neben dem Bügelbrett stand, sein Lieblingsfilm in dem Stapel Videos auf dem Boden.
«Entschuldigen Sie das Chaos», sagte Julie. «Sie wissen ja …»
Vera nickte, vermutete allerdings, dass es hier immer so aussah. Wahrscheinlich sogar noch schlimmer als jetzt, wo Mrs Richardson da war und im Haushalt half.
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