Totenblüte
gerade eine Fähre vom South-Shields-Pier ab. Er hatte sein Telefon inder Hand und lehnte sich ans Geländer, um zu wählen. Er wohnte im obersten Stock, da drang nicht viel Straßenlärm herauf. Gerade als er die Nummer wählen wollte, summte die Gegensprechanlage, und Gary ging zurück in die Wohnung, um zu hören, wer unten wartete. Er war gar nicht unglücklich darüber, das Telefonat noch verschieben zu müssen. Schließlich war er sich immer noch nicht sicher, was er sagen wollte.
«Ich bin’s, Herzchen. Vera Stanhope.» Die Polizistin vom Abend zuvor. Er hatte geglaubt, ihr schon alle Fragen beantwortet zu haben; dass sie jetzt hier war, brachte ihn völlig aus dem Konzept. Früher wäre er da viel gelassener gewesen. Damals hatte er noch genug Selbstbewusstsein, um sich aus jeder Situation und jedem Schlamassel herauszureden. Inzwischen fiel ihm das nicht mehr so leicht. Aber er konnte sie ja schlecht da unten stehenlassen.
«Kommen Sie rauf.» Er versuchte, locker zu klingen, um ihr zu zeigen, dass er nichts zu verbergen hatte.
Dann warf er einen raschen Blick in seinen großen Spiegel. Reine Gewohnheit. Das gab ihm Sicherheit. So, wie es ihm Sicherheit gab, ein Vermögen für die richtige Frisur oder ein gutes Paar Schuhe auszugeben. Dann machte er die Wohnungstür auf und wartete. Er hörte den Aufzug nicht und überlegte schon, ob sie vielleicht durch einen dringenden Anruf wieder weggerufen worden war, als sie keuchend und nach Atem ringend an der Treppe auftauchte.
«Ich hasse Aufzüge.» Sie schnaufte anklagend, als wollte sie ihm vorwerfen, dass er hier wohnte. «Ich frage mich jedes Mal, ob ich nicht zu schwer dafür bin.» Und Gary begriff, dass sie sich durchaus über ihre Erscheinung Gedanken machte. Wahrscheinlich war sie in der Schule ständiggehänselt worden und hatte sich nur dagegen wehren können, indem sie selbst zum Angriff überging. Er war jetzt erstaunt, dass sie ihn am Abend zuvor derart eingeschüchtert hatte, lehnte sich an den Türrahmen und ließ sie an sich vorbei in die Wohnung treten.
Drinnen sah er ihr zu, wie sie sich umschaute, und versuchte, seine Wohnung mit ihren Augen zu sehen. Bestimmt hatte sie erwartet, dass es unordentlicher bei ihm wäre. Er besaß eine Unmenge Elektronik, die aber in Kisten gepackt in dem Regal an einer Wand verstaut war. Ein bisschen Unordnung machte ihm nichts aus, aber zu chaotisch wollte er es dann doch nicht haben. An derselben Wand stand ein langer Schreibtisch mit Rechner und Drucker, Kopfhörer lagen herum, Audiozeitschriften stapelten sich. In der Mitte des Zimmers stand ein Sofa mit einem kleinen Couchtisch, in der Ecke der Fernseher und der DV D-Spieler . Und an der Wand hingen zwei vergrößerte Schwarzweißfotos. Eines zeigte den Fluss in Newcastle. Abendstimmung. Ein Blick über alle Brücken hinweg bis zur Gateshead Millennium Bridge, dem
Blinking Eye
. Aber eigentlich, dachte Gary, gab es hier nichts richtig Persönliches. Nichts, womit er sich verraten hätte. Er hatte sich erlaubt, ein Foto von Emily zu behalten, aber das stand klein und unauffällig auf dem Schreibtisch. Es würde der Polizistin nicht auffallen.
«Setzen Sie sich doch», sagte er. «Tee oder Kaffee?»
Sie war immer noch rot im Gesicht vom Treppensteigen. Gary nahm auch selten den Aufzug, außer, wenn er wirklich schwer zu tragen hatte. Er war aber nicht einmal außer Atem, wenn er hier oben ankam. Dann ermahnte er sich, nicht so arrogant zu sein. Sie war eine Frau, mindestens vierzig und hatte Übergewicht. Das war ja wohl kein Vergleich.
«Hätten Sie vielleicht ein Bier?», fragte sie. «Ich bin auch nicht wählerisch, Herzchen. Was immer Sie gerade im Kühlschrank haben.»
Gary musste lächeln. Irgendwie mochte er sie, obwohl er sich dagegen wehrte. Er holte zwei Dosen Bier aus dem Kühlschrank und brachte ein Glas für sie mit. Sie ließ sich vorsichtig auf dem Sofa nieder. Gary setzte sich auf den Boden, streckte die Beine von sich und spürte, wie sie ihn musterte.
«Laut Ihrer Akte sind Sie fünfunddreißig», bemerkte sie. «Sie haben sich nicht schlecht gehalten. Wenn ich Sie so anschaue, würde ich Sie fünf Jahre jünger schätzen.»
«Danke.» Es ärgerte ihn fast ein wenig, dass er sich geschmeichelt fühlte. Immerhin war das eine komische Bemerkung aus ihrem Mund, und sie beäugte ihn auch noch so eindringlich dabei. Einen Moment lang kam ihm der Gedanke, dass Frauen sich wahrscheinlich ständig so fühlten.
«Die Wohnung hier muss ja
Weitere Kostenlose Bücher