Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
TotenEngel

TotenEngel

Titel: TotenEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Fischer
Vom Netzwerk:
verletzte Hand begann wieder zu schmerzen, kaum dass er rannte. Die Sonne stand schon tief über den Häusern, sie schien ihm ins Gesicht und blendete ihn. Am Himmel trieben hohe Böen graue Wolken heran, denen Krähen mit verlorenen Schreien entgegenstiegen; die Luft roch kalt, weil es jetzt wirklich Winter wurde.
    Van Leeuwen keuchte, als er den Bus erreichte, und er hielt noch immer das Handy ans Ohr. Er warf sich mit der Schulter gegen die Tür, weil der Bus gerade anfahren wollte, und brüllte: » Politie! Aufmachen, los!« Der Fahrer öffnete die Tür. Van Leeuwen rief: »Polizei! Commissaris van Leeuwen!« Und dann stand er in dem voll besetzten Bus und redete weiter mit Zheng Wu, der nicht mehr antwortete, sagte: »Ich bin gleich bei Ihnen«, sagte: »Bleiben Sie, wo Sie sind«, und sagte immer wieder: »Wir reden über alles, ich weiß, ich weiß«, weil er unbestreitbar wusste, was Wu fühlte.
    Schließlich brach die Verbindung ab, und Van Leeuwen rief das Wijkteam in der Warmoesstraat an, damit sofort einBeamter zur Wohnung des Chinesen geschickt wurde. Dann versuchte er, Zheng Wu zurückzurufen, aber in der Wohnung ging niemand ans Telefon. Als er endlich vor dem Haus am Zeedijk eintraf, raste sein Herz, als wäre er die ganze Strecke gerannt. Der uniformierte agent , den das zuständige Revier hergeschickt hatte, begrüßte ihn mit einem Schulterzucken und meinte: »Macht nicht auf, scheint niemand da zu sein!« Der Commissaris schob den jungen Polizisten beiseite und stürzte ins Haus. Er stürmte die Treppe hinauf, hämmerte mit der Faust gegen die Tür und rief: »Mijnheer Wu! Mijnheer Wu, machen Sie auf – Commissaris van Leeuwen hier!«
    Eine Minute verging, dann noch eine. Van Leeuwen klopfte erneut und wartete auf das Geräusch von Zheng Wus Rollstuhl. Stattdessen hörte er wieder die schrille Musik aus der Wohnung weiter oben, die Schellen, Cymbeln und Flöten, und endlich einen Riegel, der zurückgeschoben wurde, nur Zentimeter von dem Ohr entfernt, das er gegen die Türfüllung presste. Die Tür ging auf, und dahinter saß der Chinese, lautlos herangerollt, und sagte: »Bitte, kommen in Wohnung.«
    Zheng Wu trug seinen schwarzen Anzug, ein weißes T-Shirt und die Turnschuhe mit den roten und gelben Flammen an den Seiten. Seine Haare waren jetzt so lang, dass sie fast die Ohren bedeckten. Der Commissaris betrat die Wohnung, schob sich an dem Chinesen vorbei durch den Gang, und als er den kleinen Wohnraum erreichte, lag Ailing Wu in einem schlichen jadegrünen Seidenkleid auf dem nackten Boden vor dem Bett. Ihre Augen waren geschlossen, die Lippen leicht geöffnet. Um ihren Hals war ein orangefarbener Schal geschlungen, so eng, dass es aussah, als gäbe es weder Haut noch Fleisch zwischen Stoff und Nackenwirbeln. Der dünne Strahl verblassenden Sonnenlichts, der durch das winzige Fenster auf ihre flache Brust fiel, kam Van Leeuwen wie ein Leitstrahl des Himmels für ihre Seele vor.
    Der Commissaris stand da und sah auf die junge Frau hinab, so wie er auf Jacobszoon hinabgesehen hatte und davor auf Van der Meer und noch vorher auf Muriel Brautigam und ganz am Anfangauf Gerrit Zuiker und Jun Wu, und das waren nur die Toten der letzten Wochen, nur die dieser letzten Herbsttage.
    Sie wäre nicht hier, wenn wir sie nicht hergeholt hätten, dachte er; und sie läge nicht da, wenn ich mich weiter um sie gekümmert hätte. Dann dachte er, was er schon einmal gedacht hatte: Ich kann doch nicht noch in die Wohnungen gehen.
    Er hörte den Rollstuhl und kurz darauf, wie Zheng Wu sagte: »Ailing sehr unglücklich, weil sie Wu gemacht hat zu Mann ohne Gesicht und sein Herz zu leerem Brunnen. Sie hat Wu gebeten, nehmen ihr Leben. Sie versteht, es war nicht möglich zu vergeben. Ailing und Cousin Jun, Wu hat sie immer vor sich gesehen, sie weiß das. Sie weiß, Wu kann ihr nicht mehr vertrauen, nie mehr! Sie verstehen das, Sie haben gleiche Erfahrung.«
    Van Leeuwen hörte den Chinesen hinter sich reden, mit leiser, monotoner Stimme, aber die Worte bedeuteten ihm nichts; es war, als hörte er dem Sand in einer Eieruhr beim Verrinnen zu. Er schüttelte den Kopf wie ein Stier in einer Arena, der die banderillas in seinen Flanken abschütteln will. »Nein, ich verstehe ganz und gar nicht«, rief er, »und ich habe auch nicht die gleiche Erfahrung!« Seine Stimmbänder bebten vor Empörung. »Ailing hat Sie doch gar nicht betrogen. Sie hat gelogen – gelogen! – , um Ihnen vor Gericht zu helfen!«
    Zheng Wu

Weitere Kostenlose Bücher