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Der Blutfluch: Roman (German Edition)

Der Blutfluch: Roman (German Edition)

Titel: Der Blutfluch: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Cristen
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Prolog
    Besançon, im April 1139
    W as fehlt dir, Leena? Dein Stolz, den Tibo mit Füßen getreten hat? Schau der Wahrheit ins Gesicht! Danitza erwartet sein Kind!
    Das Rauschen des Wassers bekam einen anderen Klang. Nicht länger verführerisch und einladend, sondern wütend und aufbrausend. Leena straffte die Schultern. Wie lange hockte sie schon hier am Ufer des Doubs, bis zum Scheitel in Selbstmitleid versunken? Was suchte sie hier? Einen Ausweg? Im Wasser? Weil ein Lügner, Schurke und Heuchler sie hintergangen hatte?
    Oh, nein! Sie wollte ihm und der Sippe die Stirn bieten. Rache war das Gebot der Stunde, nicht Verzicht.
    Leena erhob sich steif, taumelte, bis sie am Stamm einer verkrüppelten Weide Halt fand. Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass es Nacht geworden war. Fröstelnd versuchte sie sich zu orientieren. Ihr Gewand, fadenscheinig und mit Flitter besetzt, bot kaum Schutz vor dem Eishauch des Flusses. Das Schmelzwasser aus den Bergen des Jura nährte seine Fluten. Völlig durchgefroren schlang sie auf der Suche nach etwas Wärme die Arme um den Oberkörper. Der Frühling in Burgund hatte den Winter noch längst nicht besiegt.
    Schwarz gegen das Dunkel der Nacht erhob sich rechter Hand der Steinbogen jener Brücke, die als einzige weit und breit den Doubs überspannte. Bis zum heutigen Tag bezeugte sie die Meisterschaft römischer Baumeister, die sich weder von steilen Ufern noch von tief eingegrabenen Flussläufen hatten beeindrucken lassen.
    Eine Bewegung auf der Brücke erregte ihr Misstrauen. Die Augen eng zusammengekniffen, versuchte sie Einzelheiten zu entdecken, während sie hastig die Böschung emporkletterte.
    Am Scheitelpunkt der Wölbung des Bauwerks, genau zwischen Nachthimmel und Fluss, beugte sich eine Gestalt, gleich einem Schattenriss, gefährlich weit über die Brüstung. Herzbewegendes Säuglingsgeschrei übertönte das Wasserrauschen.
    Noch eine Unglückliche, die ihrem Leben ein Ende setzen wollte? Leenas Gespür, das sie sogar befähigte, im Linienverlauf einer Handfläche Schicksal und Zukunft der Menschen zu erkennen, warnte eindringlich davor zu säumen.
    Sie flog geradezu den Hang zur Straße hinauf. Kaum spürte sie unter ihren bloßen Sohlen den Übergang von Gras zu Stein. Keuchend rannte sie auf die Brücke, die Hände nach der Unbekannten ausgestreckt.
    »Tu es nicht!«
    Gemeinsam stürzten sie auf die Pflastersteine, so heftig war der Ruck, mit dem sie Mutter und Kind vom Abgrund zurückriss. Das Kleine verstummte jäh. Ob vor Schreck oder weil es zu Schaden gekommen war, konnte Leena nicht sagen. Sie rappelte sich hoch, wollte der Frau ebenfalls beim Aufstehen helfen und erntete nur Undank.
    »Bist du von Sinnen? Was willst du? Fass mich nicht an!«
    Der bestimmte Ton verriet die Person von Stand, auch wenn die Worte geschluchzt wurden.
    Leena gab die Gewandfalten frei, die sie immer noch umklammert hielt. Stattdessen berührte sie angstvoll das stille Bündel, ohne dass ihr die Geste zu Bewusstsein kam. Nicht nur Tibo sehnte sich schmerzlich nach Kindern. Hatte er sich deswegen einer anderen zugewandt?
    »Was tust du?«, fragte sie vorwurfsvoll, sobald sie eine Regung von Leben unter dem Tuch erspürte und leises Wimmern vernahm. »Der Tod löst keine Probleme. Ich weiß, wovon ich spreche.«
    »Nichts weißt du. Du hast keine Ahnung, was mir das Schicksal angetan hat.«
    »Kein Leid rechtfertigt es, sein Leben wegzuwerfen. Schon gar nicht das eines unschuldigen Kindes«, widersprach Leena heftig. »Kinder sind das kostbarste Geschenk des Himmels.«
    »Dieses nicht. Es hätte nie zur Welt kommen dürfen.«
    Ein Windstoß zerriss das Wolkenband vor dem Mond, so dass ein Lichtstrahl auf die Verzweifelte fiel. Sie war selbst noch ein Kind, kaum älter als fünfzehn Jahre, aber sichtlich von den Strapazen der Geburt gezeichnet. Feucht klebte ihr das Haar an den Schläfen. Das Kleid, obwohl aus Wolle und bestickt, war voller Schmutzflecken. Entweder hatte sie ihr Kind auf der Straße geboren, oder man hatte sie kurz nach der Geburt auf die Gasse gejagt. Woher sie die Kraft nahm, sich aufrecht zu halten, war Leena ein Rätsel.
    »Du brauchst Hilfe«, stellte sie fest. »Wärme und Nahrung. Auch dein Kind hat Hunger. Hat dir niemand gezeigt, wie du es anlegen musst? Wann hast du es geboren?«
    »Heute.«
    »Und in aller Heimlichkeit, nehme ich an.«
    »Ich hatte keine Wahl. Es ist ein Teufelsbalg, die Strafe für meine Sünden. Sieh her, es trägt ein Blutmal. Es ist verflucht.

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