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TotenEngel

TotenEngel

Titel: TotenEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Fischer
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alles im Auge behalten konnte. Außer ihm gab es in dem Wagen nur noch zwei Frauen von der Heilsarmee, die er an ihren Tamburinen und den zusammengeklappten Plakatständern erkannte, Jesus saves you, und ein schlafendes Mädchen mit eingefallenen Gesichtszügen, einer löchrigen Jacke und schmutzigen Jeans. Die Bahn fuhr an, in der Kurve zum Dam kreischten dieRäder auf den Schienen, und die Deckenbeleuchtung flackerte erneut.
    Der Commissaris sah aus dem Fenster auf die Straße. Die Unruhe, die ihn geweckt hatte, drehte sich dicht hinter seinem Zwerchfell wie ein kleiner, harter Kreisel.
    Auf der Scheibe zitterten Wassertropfen, die vom Regen übrig geblieben waren. Hinter der Brücke und dem Koffiehuis wurde die Nacht bunt, wo das nie ermüdende Neon an den Häuserfronten entlangsprang und durch die immer gleichen roten, gelben und blauen Buchstaben floss. Die Straßenbahn fuhr vorbei an diesen Leuchtreklamen für holländisches Bier und indonesisches Essen, für Souvenirkitsch, Geldwechsler und Fast-Food-Lokale voller Spiegel und Messing. Neben den Türen der billigen Hotels blinkten Vacancy -Schilder, und in den Seitengassen lockten andere Lichter mit noch mehr Essen, noch größeren Biergläsern und noch niedrigeren Preisen. Feuchte Markisen schlugen im Wind über den Köpfen der letzten Nachtschwärmer, die sich in kleinen Gruppen über die Gehsteige schoben.
    Der Commissaris sah einzelne Gesichter, sie traten überraschend hervor wie Ziele in einem Videospiel, und er achtete auf die Mienen und Bewegungen, die zu den Gesichtern gehörten. Er ordnete sie ein, ob sie Gefahr bedeuteten oder nur Übermut oder ob sie vom einen ins andere umschlugen.
    Da, die Gruppe Brasilianer in weißen Sambahosen und bunten Hemden, die in der Mitte der Fahrbahn gingen, als gehörte der Dam zur Copacabana. Da, die
     Horde Cockney grölender Jugendlicher mit Skinhead-Frisuren und Lederjacken. Da, die Radfahrer in T-Shirts und Outdoor-Hosen, die mit schrillem Klingeln
     aus der Dunkelheit heranrasten. Da, die Kamikaze-Kids auf Rollerblades, die hinter einem Schutzschirm aus Sonnenbrillen, MP 3-Playern und Kopfhörern rücksichtslos dahinflogen wie Cruise Missiles auf der Suche nach einer unsichtbaren
     Hitzequelle. Eine arabische Familie in Burnus und Scharia auf dem Weg zu ihrem Fünf-Sterne-Hotel. Ein Mädchen mit blonden Zöpfen und verlaufener
     Schminke, in Tränen aufgelöst.
    Die Tram hielt an der alten Börse. Ein paar Rucksacktouristen stiegen ein. Danach zwei alte Chinesen in dunklen Anzügen und vier Jugendliche, die zusammengehörten: drei Jungen und ein Mädchen in modischen Klamotten, Einwandererkinder, dunkelhäutig, aber nicht schwarz. Aufgekratzt zeigten sie dem Kontrolleur ihre Monatskarten, bevor sie sich in der Mitte des Zuges auf zwei Bänke quetschten. Das Mädchen setzte sich auf den Schoß des Ältesten. Es flüsterte ihm etwas ins Ohr, sehr ernst, fast ein wenig ärgerlich. Er hörte zu und lachte. Sie wollte nicht, dass er lachte, und sie sagte noch etwas, und er lachte noch einmal.
    Die Straßenbahn fuhr weiter. Der Commissaris stand auf und ging zur Tür. Als er gerade den Knopf zum Aussteigen drücken wollte, versetzte der Junge dem Mädchen eine Ohrfeige. Eigentlich war es mehr ein Klaps als eine Ohrfeige, aber der Schlag überraschte das Mädchen, und es wusste nicht, wie es reagieren sollte. Die Jungen lachten. Das Mädchen sah den Jungen an, der ihm den Klaps versetzt hatte. Es wusste noch immer nicht, wie es reagieren sollte, und da schlug der Junge es wieder, nicht sehr fest, mehr wie man einen Hund schlägt, und alle lachten, alle bis auf das Mädchen.
    Sie verstand nicht, was gerade mit ihr geschah, außer, dass es an Stellen wehtat, die seine Hand gar nicht berührt hatte. Tränen traten ihr in die Augen und glitzerten in den Wimpern.
    Der Junge zwinkerte seinen Kumpels zu, dann blickte er zum Fenster hinaus, während das Mädchen ihn weiter ansah. Sie wollte nicht weinen, aber die Tränen kamen einfach und liefen ihr über die Wangen, bis hinunter zu den Mundwinkeln.
    Der Commissaris ging zu dem Jungen und dem Mädchen und fragte: »Du, wie heißt du?«
    Der Junge tat, als hätte er ihn nicht gehört. Er grinste seine Kumpels an, und seine Kumpels grinsten ihn an, und das Mädchen wischte sich die Tränen mit dem Handrücken ab. Van Leeuwen sah weiter den Jungen an, der seinem Blick auswich. Er sah ihn an und sagte: »Ich rede mit dir, Junge. «
    Die Straßenbahn ruckelte hin und her, und das

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