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TotenEngel

TotenEngel

Titel: TotenEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Fischer
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Solange er in der Nähe war, hüllten sie sich in Schweigen, und keiner sah ihm nach, und noch immer war da die Unruhe, die ihn weitertrieb. Er wusste nicht, wohin sie ihn führte oder ob er sie sich nur einbildete, um eine Ausrede zu haben. Er sagte sich, dass er nicht nach Hause gehen durfte, solange die Stadt nicht schlief. Es war seine Stadt, aber die Straßen waren gefährlich; unter der harmlosen Oberfläche waren sie gefährlich. Vielleicht konnte er sie sicherer machen, auch wenn er jetzt, da Simone tot war, nicht mehr genau wusste, für wen.
    Er fragte sich, was ihn noch mit den anderen Menschen verband. Er sah sie, aber er spürte sie nicht mehr so wie früher; ein Verbindungsglied fehlte. Er blieb stehen. Vor ihm lag die Mündung einer Gasse, die in die feuchte Finsternis zwischen zwei engstehenden Hausmauern führte. Er holte eine daumendicke Taschenlampe aus der Manteltasche und leuchtete in die Gasse. Er entdeckte nichts, das seine Unruhe erklärt hätte, überhaupt nichts.
    Langsam ging er hinter dem Strahl der Taschenlampe her. Der Lichtkegel geisterte über aufgeplatzte Müllsäcke, rostbefallene Hintertüren und Urinflecken an den Mauersockeln. Bunt gezackte Graffiti sprangen aus der Dunkelheit. Die nassen Pflastersteine glänzten grau und schwarz, und als der Commissaris die Spuren von Rot entdeckte, blieb er wieder stehen. Der Lichtstrahl wanderte allein weiter, tastete über das Pflaster, die Mauern, die Aktentasche, den Fuß.
    Die Aktentasche war braun. Der Fuß steckte in einem gelben Strumpf und einer braunen Sandale. Er gehörte zu einem Mann, und der Mann lag, halb hinter einem Müllsack verborgen, auf dem Rücken. Der Commissaris trat vorsichtig über den roten Fleck hinweg.
    Er wusste, dass der liegende Mann nicht betrunken war, schon bevor der Lichtstrahl den Rest des Körpers erfasste. Er sah die halb offen daliegende Aktentasche, den Fuß mit dem gelben Strumpf in der dunkelbraunen Sandale und dann eine schmutzige hellbraune Hose mit einem Gürtel aus imprägnierter Jute und ein weißes Baumwollhemd mit hochgekrempelten Ärmeln. Er sah eine zinnoberrote Swatch-Uhr mit Plastikarmband am linken Handgelenk des Mannes und neben dem Kopf eine Brille mit geflicktem Rahmen und zersplitterten Gläsern. Das Gesicht konnte er nicht sehen, denn es war der Mauer zugewandt, als wollte es dem Licht ausweichen. Auch den zweiten Arm, der zwischen dem Körper und der Mauer verborgen lag, konnte er nicht sehen.
    Er hob die Hand mit der Taschenlampe bis in Kopfhöhe, um hinter den liegenden Mann zu leuchten. Er beugte sich vor. So ging es: Die Augen des Mannes standen offen, genauso wie die Lippen. Die Nasenlöcher waren gerötet, darunter gab es Spuren einer durchsichtigen Flüssigkeit, die zwischen Nasenwurzel und Oberlippe getrocknet war. Nasenbluten, dachte der Commissaris. Sonst sah er keine Wunde, keine Verletzung und auch keine Einstichstellen an den Armen.
    Der Commissaris beugte sich vor und legte zwei Finger an den Hals des Mannes, versuchte, einen Puls zu finden. Es gab keinen. Das Fleisch unter der Haut war noch warm, der Tod konnte also erst vor Kurzem eingetreten sein. So ist das also. Es war die erste Leiche, die er selbst fand, und er dachte: So ist das also . Dann dachte er, du bist zu spät gekommen, und ein Gefühl der Enttäuschung ergriff ihn.
    Er holte sein Mobiltelefon aus der Innentasche seines Leinenjacketts und wählte die Nummer des Nachtdienstes im Hoofdbureau, weil er die des für den zweiten Distrikt zuständigen Wijkteams in der Warmoesstraat nicht aus dem Gedächtnis wusste. Eine Männerstimme meldete sich, und er nannte seinen Namen und erklärte, wo er war und was er dort gefunden hatte: das Opfer eines Unfalls, einer Schlägerei oder eines Mordes. Er forderte einen Arzt und die Spurensicherung an und bat darum, den Diensthabenden vomzweiten Distrikt zu informieren, damit er ein paar uniformierte Agenten zu seiner Unterstützung schickte. Nachdem er fertig war, lehnte er sich mit dem Rücken an die gegenüberliegende Mauer und wartete im Dunkeln bei der Leiche.
    Er war in der Nähe gewesen, dachte er. Seit er angefangen hatte, seine nächtlichen Runden zu drehen, die Stadt zu durchstreifen, ruhelos, aber ohne ein bestimmtes Ziel, war er nie so nah gewesen. Ein bisschen näher nur und etwas früher, und er hätte es vielleicht verhindern können. Es sah aus wie ein Unfall oder ein Totschlag, aber was, wenn es ein Mord gewesen wäre? Wenn er als Polizist im selben kurzen

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