Totengrund
es in ein Geisterdorf verschlagen hatte. Ebendieser Sturm mit seinen blendend grellen Schneegestöbern hatte Maura und ihre Reisegefährten in Kingdom Come festgehalten, wo sie zu viel gesehen, zu viel mitbekommen hatten. Wir hätten alles auffliegen lassen .
Wieder hob Loftus das Gewehr und zielte auf den Behälter.
In Panik trat sie einen Schritt auf ihn zu. »Sie könnten Straffreiheit beantragen«, sagte sie.
»Es gibt keine Straffreiheit für Leute, die unschuldige Menschen umbringen.«
»Wenn Sie gegen die Entsorgungsfirma aussagen …«
»Die haben genug Geld, um sich die besten Anwälte leisten zu können.«
»Sie können Namen nennen.«
»Das habe ich schon getan. In meinem Pick-up liegt ein Umschlag. Darin sind Zahlen, Daten, Namen. Jedes Detail, an das ich mich erinnern kann. Ich hoffe, es reicht aus, um sie zu Fall zu bringen.« Seine Finger schlossen sich um den Schaft des Gewehrs, und Maura gefror der Atem in der Kehle. Wo bist du, Jane?
Das Rascheln von Zweigen ließ Maura aufschrecken.
Loftus hörte es auch. In diesem Augenblick fiel auch der letzte Rest von Unsicherheit, der ihn gequält haben mochte, von ihm ab. Er sah auf den Behälter hinunter.
»Das ist doch keine Lösung, Loftus«, sagte Maura.
»Es ist die Lösung für alles«, erwiderte er.
Jane trat aus dem Wald. Sie hielt ihre Waffe mit beiden Händen, und der Lauf zielte auf Loftus. »Lassen Sie das Gewehr fallen«, sagte sie.
Der Ausdruck, mit dem er sie ansah, war merkwürdig teilnahmslos. Das Gesicht eines Mannes, dem längst alles gleichgültig war. »Sie sind am Zug, Detective«, sagte er. »Seien Sie eine Heldin.«
Jane trat einen Schritt auf ihn zu, die Waffe fest umklammert. »Es muss nicht so enden.«
»Es ist bloß eine Kugel«, sagte Loftus. Er wandte sich zu dem Behälter um. Hob sein Gewehr und legte an.
Ein Schuss krachte, und Blutspritzer benetzten den Schnee. Eine Sekunde lang schien Loftus in vorgebeugter Haltung zu erstarren, wie ein Taucher, der sich zum Sprung ins Meer anschickt. Das Gewehr fiel ihm aus der Hand. Langsam sackte er nach vorn und fiel mit dem Gesicht nach unten in den Schnee.
Jane ließ ihre Waffe sinken. »Mein Gott«, stieß sie halblaut hervor. »Er hat mich dazu gezwungen.«
Maura sank neben Loftus auf die Knie und drehte ihn auf den Rücken. Seine Augen waren noch nicht gebrochen, und er starrte zu ihr auf, als wollte er sich ihr Gesicht einprägen. Es war das Letzte, was er sah, bevor das Licht in seinen Augen erlosch.
»Ich hatte keine Wahl«, sagte Jane.
»Nein. Du musstest es tun. Und er wusste es.« Langsam stand Maura auf, um zu den Ruinen von Kingdom Come hinüberzublicken. Und sie dachte: Diese Leute hatten auch keine Wahl; diese einundvierzig Menschen, die hier gestorben sind. Und auch Douglas und Grace nicht, und Elaine und Arlo. Die meisten von uns gehen durchs Leben, ohne zu wissen, wie und wann sie sterben werden.
Aber Montgomery Loftus hatte seine Wahl getroffen. Er hatte den heutigen Tag gewählt, um sein Leben durch eine Polizeikugel zu beenden, hier an diesem vergifteten Ort.
Langsam ließ sie die Luft aus ihrer Lunge entweichen, und die weiße Wolke ihres Atems driftete in die Abenddämmerung davon wie eine weitere losgelöste Seele, die ins Tal der Geister entschwand.
37
Daniel stand auf dem Rollfeld, um sie in Empfang zu nehmen, als Sansones Privatjet auf den Terminal des exklusiven kleinen Flugplatzes zurollte. Die gleichen heftigen Winde, die ihren Flug nach Massachusetts verzögert hatten, zerrten jetzt an Daniels schwarzem Mantel und zerzausten sein Haar, doch er trotzte stoisch den stärksten Böen, als der Jet zum Stehen kam und die Treppe ausgefahren wurde.
Maura verließ die Maschine als Erste. Sie stieg die Stufen hinunter, ging direkt auf seine ausgebreiteten Arme zu. Noch vor wenigen Wochen hätten sie sich nur mit einem diskreten Küsschen auf die Wange begrüßt, einer züchtigen Umarmung. Sie hätten gewartet, bis sie die Tür hinter sich verschlossen und alle Vorhänge zugezogen hatten, ehe sie sich um den Hals fielen. Doch heute war der Tag ihrer Heimkehr, ihrer Rückkehr von den Toten, und er zog sie ohne Zögern an sich.
Doch noch während Daniel sie im Arm hielt und glückselig ihren Namen murmelte, während er ihr Gesicht, ihr Haar mit Küssen übersäte, spürte sie die Blicke ihrer Freunde, die auf ihnen ruhten. Und sie spürte auch ihr eigenes Unbehagen darüber, dass ihr lange gehütetes Geheimnis nun keines mehr war.
Der
Weitere Kostenlose Bücher