Totengrund
wahr? Irgendwo, wo uns niemand kennt. Wie gerne würde ich einmal eine Woche mit dir verbringen, ohne dass wir dafür wegfahren müssen.«
Er sah zu dem Polizisten hinüber, der schon wieder auf sie zukam. »Wir reden nächste Woche darüber, wenn du wieder da bist.«
»He, Mister!«, rief der Polizist. »Fahren Sie Ihren Wagen weg, aber sofort!«
»Natürlich reden wir darüber.« Sie lachte. »Im Reden sind wir ja gut, nicht wahr? Ich habe langsam das Gefühl, dass wir praktisch nichts anderes tun.« Sie griff nach ihrem Koffer.
Er nahm ihren Arm. »Maura, bitte. Lass uns nicht so auseinandergehen. Du weißt, dass ich dich liebe. Ich brauche nur Zeit, um mir über alles klar zu werden.«
Sie sah die Qualen, die sich in seinen Zügen spiegelten. All die Monate der Heimlichtuerei, des Zauderns und der Schuldgefühle hatten ihre Narben hinterlassen, hatten alles Glück, das er mit ihr empfunden haben mochte, von vornherein getrübt. Sie hätte ihn trösten können – mit einem Lächeln, einer aufmunternden Berührung seines Arms. Aber in diesem Moment konnte sie nichts wahrnehmen als ihren eigenen Schmerz. Und ihr einziger Gedanke war, ihn das Gleiche spüren zu lassen.
»Ich glaube, unsere Zeit ist abgelaufen«, sagte sie, wandte sich ab und betrat den Terminal. Im gleichen Moment, als die Glastüren sich zischend hinter ihr schlossen, bereute sie bereits ihre Worte. Doch als sie stehen blieb, um einen Blick zurück durchs Fenster zu werfen, stieg er schon wieder in seinen Wagen.
Die Beine des Mannes waren gespreizt und gaben den Blick auf die zerfetzten Hoden frei, auf die verbrannte Haut von Gesäß und Damm. Der Vortragende hatte das Autopsiefoto ohne Vorwarnung an die Leinwand projiziert, und doch war von den Sitzreihen in dem abgedunkelten Konferenzsaal nicht ein Laut der Bestürzung zu vernehmen. Dieses Publikum war abgehärtet, immun gegen den Anblick verstümmelter und zerschmetterter Körper. Wer verkohltes Menschenfleisch gesehen und berührt hat, wer mit diesem beißenden Geruch vertraut ist, für den hat ein steriles Dia keinen Schrecken mehr. Tatsächlich war der weißhaarige Mann auf dem Platz neben Maura bereits mehr als einmal eingenickt; und auch jetzt konnte sie im Halbdunkel sehen, wie sein Kinn immer wieder auf die Brust sank, während er mit dem Schlaf kämpfte – ungerührt von der Serie grausiger Fotos, die auf der Leinwand aufleuchteten.
»Was Sie hier sehen, sind typische Verletzungen, wie sie von einer Autobombe verursacht werden. Das Opfer war ein fünfundvierzigjähriger russischer Geschäftsmann, der eines Morgens in seinen Mercedes stieg – einen sehr schicken Mercedes, wenn Sie mir die Bemerkung erlauben. Als er den Zündschlüssel umdrehte, löste er damit den Sprengsatz aus, der unter seinem Sitz angebracht worden war. Wie Sie an den Röntgenaufnahmen erkennen können …« Der Redner klickte mit der Maus, und die nächste PowerPoint-Folie erschien auf der Leinwand. Es war das Röntgenbild eines Beckens, das an der Schambeinfuge auseinandergerissen war. Knochen- und Metallsplitter hatten sich tief in das weiche Gewebe gebohrt. »Wie Sie sehen, wurden durch die Explosion Fragmente des Fahrzeugs in das Perineum des Opfers getrieben, die das Scrotum zerfetzten und die Sitzbeinhöcker abrissen. Ich muss leider sagen, dass wir solche Explosionsverletzungen immer häufiger zu sehen bekommen, insbesondere im Zusammenhang mit Terroranschlägen. Dies hier war eine relativ kleine Bombe, die nur den Fahrer des Wagens töten sollte. Im Bereich des Terrorismus haben wir es hingegen mit weit schwereren Explosionen und einer Vielzahl von Opfern zu tun.«
Wieder ein Mausklick, und ein Foto von herausgeschnittenen Organen leuchtete auf, aufgereiht auf einem grünen OP-Tuch wie glitzernde Fleischstücke in der Auslage einer Metzgerei.
»Manchmal werden Sie vielleicht nur sehr wenige äußere Verletzungen vorfinden, selbst wenn die inneren Verletzungen tödlich sind. Hier sehen wir die Folgen eines Selbstmordanschlags in einem Jerusalemer Café. Dieses vierzehnjährige Mädchen erlitt durch die Erschütterung massive Lungenverletzungen, dazu Rupturen der Bauchhöhlenorgane. Und dennoch war ihr Gesicht unversehrt. Beinahe engelsgleich.«
Das Foto, das nun auf die Leinwand projiziert wurde, rief die erste vernehmbare Reaktion im Publikum hervor: betroffenes, ungläubiges Raunen. Das Mädchen schien friedlich zu schlafen; ihr makelloses Gesicht entspannt und frei von Sorgenfalten, die dunklen
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