Totenhaut
Schmerzmittel nehme und nichts trinken darf.«
»Aber doch wohl eine Cola?«
Jon zog die Augenbrauen hoch. »Scherzkeks. Nein, ich passe.«
»Na, dann ein andermal. Im Bull’s Head vielleicht?«
»Auf jeden Fall. Und wo musst du als Nächstes hin?«
»Ich habe ein bisschen Bedenkzeit bekommen. Ich bin mir nicht sicher, ob der Einsatz an vorderster Front wirklich das Richtige für mich ist. Vielleicht gehe ich wieder zurück ins Präsidium. Ich könnte da was in der Disziplinarabteilung machen.« Er schaute Jon an, um seine Reaktion zu sehen.
»Es war wirklich toll, mit dir zusammenzuarbeiten, Rick. Du hast ein verdammt helles Köpfchen, und du bist sehr genau, wenn’s um Details geht.«
»Danke. Aber in O’Connors Haus bin ich fast zu Eis erstarrt. Ich wollte da nicht reingehen. Wenn du nicht vorangestürmt wärst …«
Jon zuckte mit den Achseln. »Ah, noch was wegen dieses Kellers. Es lagen zwei Spritzen in der Schale neben dem Steinblock. Hast du rausbekommen, was da drin war?«
»Hab ich. Propofol, um sie zu sedieren. Diamorphin für ihn.«
»Hat er wieder damit angefangen?«
»Dieser Psychologe, Dr. Heath, meint, er hat es als Enthemmungsmittel benutzt. Um das zu tun, was er getan hat.«
Jon zupfte auf dem Rand des Kartons mit den Ordnern herum.
»Woran denkst du?«, fragte Rick.
»Irgendwelche Theorien von Dr. Heath, warum er es getan hat?«
»Nur die üblichen – der Kick, Gott zu spielen und solche Sachen.«
Dr. O’Connors letzte Worte klangen in Jons Kopf nach. Ganz tief in seinem Innersten gestand sich ein kleiner Teil von ihm ein, dass es einem durchaus einen Kick bereiten konnte, das Leben eines anderen Menschen in der Hand zu halten. Dieses Gefühl, das merkte er jetzt, hatte sich nicht wesentlich von dem unterschieden, was er empfand, als er Alex Donley seine Faust ins Gesicht drosch.
»Komm schon, Kumpel, spuck’s aus«, forderte Rick ihn auf.
Jon holte tief Luft und sprach sehr leise. »Da unten in dem Keller, nachdem du hochgegangen warst, um zu sehen, wo die Sanitäter bleiben, da hat er was zu mir gesagt.«
»Wirklich? Was denn?« Rick beugte sich vor, um ihn besser verstehen zu können.
Einen Moment lang sahen sie einander in die Augen. »Ich habe ihn da unten sterben lassen, Rick, und er hat gelächelt und gesagt: ›Unten drunter sind wir gleich.‹«
Er senkte den Blick auf seine Uhr und sah zu, wie die Sekunden lautlos vertickten.
Schließlich erklärte Rick. »Zwei Dinge. Erstens hast du ihn nicht sterben lassen. Er war schon mehr oder weniger verblutet, als wir in diesen Raum kamen. Er hatte sich eine Arterie durchtrennt. Wahrscheinlich hätte ihn nicht einmal ein ganzes OP-Team am Leben erhalten können.«
Jon versuchte zu lächeln. »Aber ich habe auch nur zu gern nicht versucht, es zu verhindern. Und zweitens?«
»›Unten drunter sind wir gleich.‹ Hat er es genau so gesagt?«
Jon nickte.
»Ich glaube nicht, dass er ›wir‹ im Sinne von ›Sie und ich‹ meinte. Was er sagen wollte, war ›wir‹ im Sinne von ›wir alle‹. Unten drunter sind wir alle gleich. Vielleicht wollte er das ja zeigen, indem er seinen Opfern die Haut abzog. Es war eine Vorführung, eine Zurschaustellung. Vielleicht ein Protest dagegen, wie seine Kunst – die er sich in langen Jahren angeeignet hat – herabgewürdigt und instrumentalisiert wird, um die Eitelkeit der Menschen zu befriedigen.«
»Glaubst du?«
»Ja.« Rick stand auf und ging um ihre Schreibtische herum.
Sie standen sich ein wenig verlegen von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Er streckte eine Hand aus.
Jon sah auf seine bandagierten Finger hinunter. Ein Händedruck war unmöglich. Stattdessen hob er seine linke Hand und schlug Rick auf die Schulter. »Es war schön, mit dir zu arbeiten, Kumpel.«
»Gleichfalls.«
Sie umarmten sich und klopften sich gegenseitig auf den Rücken – ein Trick, darüber war Jon sich im Klaren, um das nötige Maß an Männlichkeit zu wahren.
Als Rick durch den leeren Raum ging, um den anderen ins Pub zu folgen, rief Jon ihm nach: »Wenn du es dir anders überlegst mit dem Einsatz an vorderster Front … ich würde gern wieder mit dir zusammenarbeiten.«
Epilog
J
on kniete auf dem Fußboden des Kinderzimmers und breitete die alten, mit Farbspritzern bedeckten Zeitungen aus. Er stellte die rote Farbdose darauf und versuchte, den Deckel mit seiner linken Hand aufzumachen. Die Finger seiner rechten waren zwar nicht mehr bandagiert, aber beim Zupacken taten sie ihm immer
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