Die Hexengabe: Roman (German Edition)
1. Kapitel
A ber das ist Unrecht!« Rosa hob zum ersten Mal, seit sie an der Seite ihrer Mutter das gewaltige Portal des Nürnberger Rathauses durchschritten hatte, ihren Blick und funkelte ihre Peiniger wütend an.
Die sieben Männer starrten fassungslos zurück.
Auf den ersten Blick sahen sie für Rosa alle gleich aus in ihren schwarzen Kniehosen, den schwarzen Hemden und Wämsern mit den weiß aufleuchtenden Spitzenkragen. Wie bösartige Raben, fand Rosa, hockten sie da oben hinter dem langen Tisch.
»Großes Unrecht!«, wiederholte Rosa noch einmal lauter, doch ein Rempler ihrer Mutter brachte sie zum Schweigen, was von den Männern mit einem wohlwollenden Nicken aufgenommen wurde.
»Ehrwürdige Herren«, begann die Mutter mit brüchiger Stimme, »soweit mir bekannt ist, hat der Rat der Stadt Nürnberg noch niemals eine Witwe dermaßen ungnädig behandelt.«
Rosa, die schräg hinter ihrer Mutter stand, bemerkte, dass deren bester schwarzer Leinenrock vibrierte, als ob die Knie ihrer Mutter stark zittern würden. Sie fragte sich, warum ihre Mutter so viel Angst vor diesen Männern hatte.
Sie musterte den Rat jetzt eingehender und fand, dass sich die Raben, zumindest was Haartracht und Körperfülle anging, doch voneinander unterschieden.
»Wir tragen Sorge für jedwede Witwe in Nürnberg«, erklärte der Mann mit der größten Stirnglatze, »doch wie sollen wir Euch gestatten, das für Eure Verhältnisse viel zu prächtige Haus und noch dazu den ebenso vollständig überschuldeten Betrieb Eures Mannes weiterzuführen, wenn es weder einen männlichen Erben gibt, noch ein Geselle im Haus ist.« Er wischte mit einem Tuch seine glänzende Stirn trocken.
»Aber für gewöhnlich erlaubt Ihr der Witwe für wenigstens drei Jahre …«
»Ei, da schaut an, die Zapfin kennt sich aus!«, spottete einer und brachte die anderen so zum Lachen, dass ihre weißen Spitzenkragen wackelten.
»Ihr habt in der Tat nicht ganz unrecht«, erbarmte sich der Herr ganz links am Tisch. Er zwirbelte seinen Spitzbart, während er mit einem merkwürdigen Lächeln weiterredete. »Doch dieser endlose Krieg hat Nürnberg auf Jahre hinaus arm gemacht, und wir können es uns nicht leisten, einen Betrieb weiterlaufen zu lassen, von dem keinerlei Einnahmen für den Stadtsäckel zu erwarten sind. Noch dazu gibt es bereits mehr als genug Spielkartendrucker in der Stadt.«
Rosa, die wie alle anderen in der kleinen Ratsstube stark schwitzte, spürte, wie eine lähmende Kälte in den sechsten Finger ihrer linken Hand stieg – wie immer, wenn jemand log. Unwillkürlich fasste sie mit ihrer rechten Hand nach der behandschuhten linken. Sie hasste es, wenn ihr sechster Finger sich auf diese Art bemerkbar machte, und wünschte sich nichts mehr, als dass er endlich einmal so kalt wie ein Eiszapfen würde, den sie dann einfach abbrechen und fortwerfen könnte.
Stets hatte sie Angst, jemand könnte diese seltsame Fähigkeit ihres Fingers bemerken, doch ein Blick auf die Männer überzeugte sie davon, dass diese Furcht unbegründet war: Der Spitzbärtige redete noch, und die anderen lauschten andächtig.
»Euer selig verstorbener Mann, der Johannes Willibald Zapf, hätte zum Ersten gut daran getan, sich zu bescheiden, zum Zweiten, besser zu wirtschaften …«, er wandte sich Beifall heischend zu den Herren, die rechts und links von ihm saßen, und zwinkerte diesen zu, »und zum Dritten hätte er statt Eurer teuflisch krüppeligen Tochter und deren kränklichen Schwestern auch einen Sohn zeugen sollen.«
Die Herren brachen in gemeinschaftliches Gelächter aus, nickten sich zu, nur um dann mit neugierigen Blicken Rosas üppige Gestalt nach ihrer Missbildung abzusuchen.
Rosa spürte unterdessen ihren Hexenfinger kalt wie nie, es kam ihr so vor, als würde er mit jedem Lachen wachsen, anschwellen, als müsste er gleich seinen ledernen Handschuh sprengen. Sie zwang sich, nicht nachzusehen, und versteckte die unselige Hand noch tiefer zwischen den Falten ihres dunkelblauen Leinenrocks. Diese schreckliche Hand, die allein schuld war an dem plötzlichen Tod des Vaters.
Sie spürte, wie ihre Mutter in sich zusammensank.
»Mutter«, flüsterte sie ihr zu, »du musst dich wehren. Der Vater hätte gewollt, dass wir weitermachen. Die Ratsherren sagen uns nicht die Wahrheit.«
Ihre Mutter bedachte sie nicht einmal mit einem Blick, sondern zischte nur ein kurzes »Schweig!«, atmete tief ein, straffte ihre Schultern und begann erneut.
»Mag sein, dass es
Weitere Kostenlose Bücher