Totenkuss: Thriller
dazwischenkommt«, meinte Fehrle.
»In zwei Wochen haben wir für den Vater eine Lösung. Auf der
Liste steht er jetzt ganz vorn. Er kriegt vielleicht schon morgen einen
Heimplatz, wenn da ein Bett frei wird.« Barbara stockte. »Übrigens wächst bei
dir am Haus jetzt das Weinlaub. Ich war gestern da, die Hecke gießen. Es sollte
zwar Regen kommen, aber es hat immer bloß getröpfelt.«
»Danke.« Weiche Bedeckung, dachte er. Beim Bettenmachen
einfach passiert. War auch bestimmt keine Absicht. Auf dem Totenschein steht
Herzversagen. Dr. Walz wird bestätigen, dass er friedlich eingeschlafen ist.
Der Vater oder der verstorbene Bewohner des Pflegeheims, je nachdem, wen es
zuerst erwischt.
»Bis dann.«
»Bis dann«, sagte Fehrle. Vor ihm stand Anita. Sie sah
müde aus; sie hatte Krähenfüße unter den Augen und ausgetrocknete Lippen. Ihr
wirres Haar war zu einem stumpfen Knoten hochgesteckt, ihr Baumwollkostüm
zerknittert. Sie wirkte, als habe sie die Nacht auf der Autobahn verbracht.
»Wo kommst du denn her?«, fragte Fehrle blöd.
»Von meiner Mutter«, sagte sie. »Timo, ich muss mit dir
reden.«
»Du glaubst doch nicht«, erwiderte Fehrle, »dass ich
irgendwas damit zu tun hab.« Er bückte sich und wandte die Gasflasche auf. Dann
suchte er Streichhölzer.
Sie trat nah an ihn heran. Er roch ihren abgestandenen Atem.
Sie schlug ihm die Streichhölzer aus der Hand. Drehte den Hahn zu.
»Du glaubst«, meinte Fehrle und drehte sich um, »ich hätte
Petra umgebracht. Vergewaltigt und auf sie eingestochen. Sie erwürgt.
Zugedeckt. Geschändet. Zersäbelt. Nach Stuttgart gekarrt, in diesen verdammten
Park.«
»Ihr wart es beide«, sagte Anita leise. Sie sah zu Boden.
»Ihr habt es beide getan. Ihr wart Freunde, du und Olaf. Der Tathergang lässt
sich inzwischen klar darlegen.«
»Wie kann dein Ver…ver…ver…trauen nur so weit ge…gehen.« Fehrle
stotterte. Er sah durch sie hindurch.
Anita lauschte dem Satz nach. Irgendetwas daran klang falsch.
»Papa, Papa!« Nathan und Jorinde rannten über die Wiese.
Bonnie lief hinter den Kindern her und sang: »Come fa il
cane? Bau! Bau! / E il gatto? Miao!
/ E il coccodrillo? / E il coccodrillo? / Boh!«
Nathan und Jorinde
fielen ein: »Il coccodrillo come fa / non c’è nessuno che lo sa.«
Ich werde 102 Jahre alt. Da bin ich sicher.
Heinrich Pommerenke (1937-2008)
Pfingstmontag, 12. Mai
# O stumpfes Fenster hinaus, o sorgsam verschlossene Türen
Jesus, den du, o Jungfrau, vom Heiligen Geist
empfangen hast. Der Marienmonat Mai. Von jeher ein Scheißdreck. Ein
Scheißmonat. Maria, die Maienkönigin. Maria Muttergottes. I verhebbs nimme. [13] Rosa stand im Hausgang, wo es nach Moder und fauligen Kartoffeln roch, und
staubte das Jesulein ab. Sie hatte den Marienaltar im Eck auf ein Podest
gestellt aus schiefen Bananenkartons, in denen neben Fix & Foxi-Heften und
allerlei Krimskrams die Literatur der Nobelpreisträger der Jahre 1906, 1907 und
1908 lag, die Rosa aussortiert hatte. [14] Während sie der Gottesmutter mit dem Staublappen zu Leib rückte, bruddelte sie
vor sich hin. Wonnemonat, dass ich nicht lache! Da werden Altäre aufgestellt
mit der Schwarzen Madonna, man skandiert die Freudenreichen Geheimnisse und auf
den Rosenkranz hageln Forsythienblüten; über die Lungenbläschen legt sich
giftgelber Schnee, bis wir alle am Ersticken sind, am Verrecken vor Schönheit,
weil alles beständig verblüht. Alles im Eimer. Das kann doch keine Sau
aushalten, erst die Griesen, binnen einer Woche ist die Kirschblüte hin, dann
die fleischigen, verwilderten Tulpen, dann der Flieder und die Äpfel und die
Rossbollen [15] .
Pusteblume. Alles zieht sich zusammen und rostet und fegt durch die Luft. Hinüber.
Schrumpelblüten auf dem Marienaltärle, alles vergeht ums Mal, der Flieder
rostet, die Madonna jault, und wenn die Kastanienkerzen verrecken, dann hast du
Geburtstag. Noch eine Woche musst du durchhalten, sagte sich Rosa, dann ist es
wieder soweit. Geburtstag. 83. Bereit, in seine Bestandteile zu zerfallen. So
alt wie Marthel, und Marthel ist immer älter gewesen, das Luder, das
liederliche Mensch, schon auf der Volksschule.
»Ja, hallo!«, schrie die Schwägerin, die plötzlich wie
gerufen in der offenen Haustür stand. »Ich wollte nur mal gucken, wie’s dir
geht.«
»Gebenedeit seist du unter den Weibern«, fluchte Rosa,
Marthel im Rücken, und zupfte weiter die verwesten Blätter vom
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