Totenkuss: Thriller
Zeitung zu lesen, das Radio oder den Fernseher anzumachen. Ich
wollte gar nicht wissen, wer Diego ist. Ich hatte Angst, da noch tiefer
hineingezogen zu werden. Aber ich hatte Glück. Lucy und Noé sind dauernd mit
ihren iPods beschäftigt und kriegen nichts mit. Mone, meine Ex, hat auch nichts
gesagt.«
Irmtraud Haselbacher trank einen Schluck Kaffee und rührte
die Hörnchen nicht an. Ludger biss hinein und stellte sich vor, die
Marmeladenfüllung sei vergiftet. Offenbar glaubte die Nachbarin, er stecke mit
Diego unter einer Decke. Jedenfalls schaute sie vorwurfsvoll drein. »Er war
gerade 18, ein rechter Milchbub noch, und du warst 23. Meinst du, ich hab das
damals nicht mitbekommen? Ihr habt euch im Geräteschuppen versteckt, und du
hast ihm einen runtergeholt. Ihr wart beide pervers, aber du warst schlimmer.
Du hast ihn kaputtgemacht, du bist schuld daran, was aus ihm wurde. Wegen dir
hat er die Mädchen ums Leben gebracht! Und wegen dir ist das passiert mit
Elisa.«
»Du bist ja komplett wahnsinnig.« Ludger hörte auf zu kauen.
Er ließ das Hörnchen sinken und legte es auf den Tisch.
»Du hast ihn im Geräteschuppen an einen Pfosten gefesselt und
ihn von hinten. Ach. Ich hab’s doch gesehen, als ich eine Hacke holen wollte,
und die Herren Doktoren schwätzen in der Laube immer und immer wieder über
plastische Chirurgie! Über ein Dutzend Sommer hinweg haben die kein anderes
Thema. Da rede mir noch einer von Allgemeinmedizin. Da war doch was Kriminelles
im Spiel. Und dann war er ja auch plötzlich weg, der Herr Vater. Aber egal. Ich
mische mich nicht in anderer Leute Sach. Hab genug Eigenes zu verkraften. 20
Jahre ist das her, dass es passiert ist. In dem Sommer damals hat Olaf das
gemacht mit der Elisa. Wenn er es nicht war«, sagte sie, »bist du es gewesen.
Du hast Elisa, als sie zwei Jahre alt war, im Planschbecken getunkt. Wegen dir
ist sie heute so schwer behindert.«
Ludger fühlte sich wie nach einem schweren Schlag auf den
Hinterkopf. Dumpf, betäubt, irgendwie seiner Sinne beraubt und verraten. Völlig
verarscht. Als wolle das Schicksal mit ihm einen draufmachen und habe ihn nicht
vorher gefragt. Könnte man die Uhr doch nur um wenige Sekunden zurückdrehen, um
den Knüppel, der auf seinem Schädel niedergegangen war, zurückzuschwingen in
die Luft. Ludger merkte, dass das jetzt einfach zu viel für ihn war, zu viel
unwillkommene Information. Wie sollte er das verarbeiten? Wie konnte man auf so
viele idiotische Anwürfe aufs Mal überhaupt reagieren? Ludger hatte keine Zeit,
sich darüber klarzuwerden. Plötzlich hörte er, wie es in den Ästen knackte.
Dann waren sie auch schon da. Mehrere maskierte Männer mit Helmen,
schusssicheren Westen und Maschinenpistolen umringten den Tisch. Zwei der
Gorillas drehten Irmtraud und Ludger die Hände auf den Rücken. Weitere
SEK-Leute stürmten das Haus und weckten die Kinder.
*
»Sie schlagen zu«, sagte Hermann, der im Hemd in
der Küche stand und durch die Lamellen linste. »Meine Fresse, das ist ja ein
ganzer Haufen. Sie haben die Hütte umstellt, und zwei sitzen mit
Maschinengewehren auf dem Dach.«
Margarete trat hinter ihn und legte ihm die Hand auf die
Schulter. Ihre Stimme war schwankend. »Zu spät. Der Ausbrecher ist über alle
Berge, und Ludger wird wohl kaum wissen, wo er sich mit seinem Auto rumtreibt.
Typisch Ludger. Er hat einfach immer Pech. Dieses Polizeiaufgebot zertrampelt
ihm die ganzen Kräuter. Arme Irmtraud. Sie hat sich ja noch nicht mal von dem
gestrigen Schrecken erholt. Eine Schießerei! Hahnke soll geschossen haben, Toni
hat zurückgeschossen und sie mittendrin. Ich wüsste zu gern Tonis Version, aber
der ist zu charmant, um mit der Wahrheit herauszurücken. Vielleicht hat er
Irmtraud auch verletzt und nun Angst, dass sie ihn anzeigt. Sie sagt ja, es sei
die Kugel von Hahnke gewesen, die sie am Hals gestreift hat. Grade noch mal
Glück gehabt. Kein Wunder, dass sie durch den Wind ist. Aber sie ist selber
schuld, wenn sie da jetzt hinüberläuft und Theater macht. Da können wir ihr
jetzt auch nicht helfen. Oder was meinst du?«
»Sie werden sie schon wieder laufen lassen. Aber die armen
Mädchen!«
»Du hast recht. Wir können nicht einfach zusehen. Ich gehe
rüber und sorge dafür, dass Lucy und Noé zu uns kommen.« Margarete stand auf,
zog den Hosenbund zurecht und fuhr sich mit der Hand durch die strähnigen
Haare. »Und Mutter bringe ich auch
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