Totenkuss: Thriller
bislang nicht zu sprechen.
Auch in den Räumen des Innenministeriums in der
Dorotheenstraße ist es ungewöhnlich still. Für offizielle Stellungnahmen ist
hier keiner zu erreichen, während zirka 50 erlebnisorientierte und teilweise
gewaltbereite Demonstranten die angespannte Situation nutzen, um auf weitere
Belange aufmerksam zu machen. Das Bürohaus, das in den fünfziger Jahren auf dem
Gefängniskeller vom Hotel Silber, der vom Bombenhagel zerstörten Zentrale der
Gestapo, hochgezogen wurde, soll abgerissen werden. Es ist in den letzten
Wochen immer wieder in die Schlagzeilen geraten, weil ein Architekturwettbewerb
ausgeschrieben wird, um das Viertel neu zu ordnen und aufzuwerten (wir
berichteten). Ein Dutzend Vereine und Initiativen fordern, dort stattdessen ein
NS-Dokumentationszentrum einzurichten. Sie distanzierten sich von den
Ausschreitungen, die »auf perverse Weise einen aktuellen Konflikt ausbeuten«.
Dass ein Regierungsgebäude des Landes seit bald 60 Jahren auf
einem ehemaligen Gestapoquartier fußt, in dem massenhaft gefoltert und zum Tod
verurteilt wurde, rückt nun erst ins Bewusstsein der breiten Bevölkerung.
Gerade junge Menschen radikalisieren sich. In rasender Geschwindigkeit
vernetzen sie sich im Internet. Eine Protestwelle kündigt sich an. Bereits für
die kommende Nacht werden Mahnwachen und Krawalle erwartet. Die Stuttgarter
Innenstadt ist mit einem massiven Polizeiaufgebot bestückt, die Zugänge sind
abgeriegelt. Mit einer Eskalation wird aber nicht gerechnet. Die Situation sei
restlos unter Kontrolle. Dass in Baden-Württemberg eine Regierungskrise
anstehe, dafür gebe es derzeit keine Anzeichen, erklärte Ministerpräsident
Günther Oettinger (CDU).
Dass die geglückte Flucht eines Schwerverbrechers aus dem
Stammheimer Strafvollzug die öffentliche Ordnung derart destabilisiert, sorgt
bei den Entscheidungsträgern für steigende Nervosität. Vorschnell wird die
Verantwortung denen zugeschoben, deren Pflicht es ist, über die Missstände
aufzuklären: den Medien. Sowohl aus dem Justizministerium wie auch aus dem
Justizvollzug und aus Polizeikreisen wurden schwere Vorwürfe gegen die
Berichterstattung in der Presse erhoben. Immer wieder seien im Zusammenhang mit
den Missständen vertrauliche Details verhandelt worden, die dem Serienmörder
Hahnke schließlich ein Rezept geliefert hätten. »Wer Zeitung lesen kann«, sagte
ein Kriminalhauptkommissar, der nicht namentlich genannt werden möchte, »der
wusste, wie man aus Stammheim rauskommt.«
Der Gesuchte: Olaf Hahnke, geboren am 14. Februar
1970 in Balingen, ist deutscher Staatsbürger. Er ist 1,86 Meter groß, schlank,
sportlich. Er gilt als reaktionsschnell und verfügt über einen durchtrainierten
Körper. Hahnke hat ein ovales Gesicht, dichte blonde Haare und blaue Augen.
Keine Brille, keine unveränderlichen Kennzeichen. Er besitzt eine volltönende,
tiefe Stimme und spricht Hochdeutsch mit schwäbischem Einschlag. Der Flüchtige
hat ein geisteswissenschaftliches Studium absolviert und war vor seiner
Verhaftung in verschiedenen Berufen tätig. Zuletzt als Buchhändler, davor als
Pressesprecher eines Pharma-Konzerns.
Olaf Hahnke trug bei seiner Flucht blaugraue Jeans, ein
hellblaues Polo-Hemd, einen dunkelblauen Pullover, eine schwarze Jacke und
weiße Tennisschuhe. Er hat sich bei seinem Sprung in die Tiefe möglicherweise
verletzt. Dabei kann es zu Schürfungen, Prellungen oder Knochenbrüchen gekommen
sein, die insbesondere seine Gehfähigkeit auffällig beeinträchtigen. Vielleicht
ist er irgendwo untergetaucht, wo er medizinisch versorgt werden kann.
Vorsicht! Olaf Hahnke ist vermutlich bewaffnet. Obwohl davon
auszugehen ist, dass er sich mit Tricks das Vertrauen von gutgläubigen Personen
erschleicht, gilt er als ausgesprochen kaltblütig und skrupellos.
Für sachdienliche Hinweise, die zur Ergreifung des Gesuchten
führen, ist eine Belohnung von 150.000 Euro ausgesetzt. Sie ist ausschließlich
für Privatpersonen und nicht für Amtsträger bestimmt, zu deren Berufspflicht
die Verfolgung strafbarer Handlungen gehört. Sie wird unter Ausschluss des
Rechtswegs vergeben. Hinweise nimmt das Landeskriminalamt Baden-Württemberg
entgegen oder jede andere Polizeidienststelle.
Mein Gott, was war da alles abzulegen und zu
vergessen; denn richtig vergessen, das war nötig; sonst verriet man sich, wenn
sie drängten.
Rainer Maria Rilke,
Die Aufzeichnungen
Weitere Kostenlose Bücher