Totenkuss: Thriller
gehen, fragte er sich. Wieso höre ich, dass er
lächelt? Hektisch rief Ludger: »Du lügst!«
»Ich weiß es von Joakim. Ach, hast du gar nicht mitgekriegt?
Der ist verknackt worden. Macht in Stammheim eine staatliche Pause. Ah, jetzt
dämmert’s dir. Es war ganz einfach. Wir hatten Hofgang, und ich frag Joakim,
wer ist draußen erpressbar. Da kam er ziemlich sofort auf dich, mein Junge.«
»Ich kenne keinen Joakim.« Ludger sagte sich, dass die 500
nicht reichen würden. Er fing an zu zittern. Sein Gehirn schaltete
blitzschnell. »Ich habe nichts getan.«
Der Eindringling lachte. »Nein, natürlich nicht. Du kennst
keinen Joakim. Und du hast gar nichts getan. Mein Gott. Du bist Lehrer, Mensch.
Wenn das rauskommt, bist du alles los. Deinen Job, dein Haus, deine Freiheit,
deinen kleinen Scheißer und das Sorgerecht für deine Töchter.«
»Was soll denn rauskommen?«, fragte Ludger und er merkte, wie
fahrig seine Stimme klang. Er hatte in einem Pornoring mitgespielt und seine
Daten waren in falsche Hände geraten. Dennoch konnte es sein, dass der andere
bluffte. Er kannte ihn von irgendwoher. Er kam ihm auf diffuse Weise bekannt
vor, ohne dass er die vage Erinnerung, die er mit ihm verband, orten konnte.
Was der Fremde in ihm auslöste, war ein altes Unbehagen, eine überkommene,
überwältigende Angst.
*
24 Stunden vorher, in der Nacht von Samstag auf
Sonntag: Gegen halb fünf läutete bei Kriminalhauptkommissar Timo Fehrle in
Schorndorf-Schornberg das Telefon. Es lag auf dem Nachttisch und Fehrle
schlief. Nach dem zehnten Klingeln wachte er auf und ging ran. »Barbara?«
War Manfred gestorben? War Nathan oder Jorinde irgendetwas
passiert? Fehrle merkte, dass er idiotischerweise eine Erektion hatte.
»Guten Morgen, hier isch der Doktor Stern.«
Julius Stern. Der Kriminalpsychiater, der das
Gerichtsgutachten von Olaf Hahnke verfasst hatte. Ein Schafseckel, der ihn
siezte. Mit dem hatte Fehrle schon mal telefoniert. Am Sonntag vor zwei Wochen.
Er setzte sich auf, langte nach dem Schalter und knipste die Nachttischlampe
an. »Wissen Sie, wie viel Zeit es ist?«
»Es wird bald hell. Und es pressiert. Olaf Hahnke isch aus
der Vollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim ausbroche. Mitte in der Nacht. Über des
Schlupfloch am Hohenasperg.«
»Sackerlot.« Fehrle fluchte. »Wie hat er das denn
angestellt?«
»So, wie ich gemutmaßt hab«, sagte Stern. »Ich hab’s Ihnen ja
gsagt. Er hat einen Bandscheibenvorfall simuliert und sich verlegen lassen ins
Krankenhaus. Wenn Sie gleich zu mir gekommen wären, hätten wir das verhindern
können.«
Fehrle dachte an das Verbrechen, das vor 24 Jahren im
Mittleren Schwarzwald passiert war. Er sah die Senke vor sich, unterhalb des
Schuttplatzes in einem Waldstück an der inzwischen ausgebauten B 462.
Dort, 300 Meter Meereshöhe unterhalb der Heuwies, der Hochebene, wo Timo Fehrle
seine Kindheit verlebt hatte und sich auskannte, war der Boden aus Sandstein.
Kein Lehmboden wie drüben am Staighäusle. Die Straße führte von
Schramberg-Sulgen steil hinab Richtung Talstadt. Der Leichenfundort oder der
mutmaßliche Tatort lag auf einer Lichtung rechts der Fahrbahn etwa 150 Meter
entfernt von der ersten Haarnadelkurve. Es war Mai, die Sonne schien. Das
Mädchen lag auf dem Bauch, halb zugedeckt von einem anthrazitfarbenen
Lodenmantel, der schmutzig war und voller Blut. Das Gesicht in einem
Sandhaufen. An der Schläfe klaffte eine Wunde, die von weißen Maden befallen
war. Am Hals waren Strangulierungsmerkmale. Um den Kopf surrten Fleischfliegen.
Auf dem schütteren Gras vertrocknete eine rostrote Lache. Es stank stark nach
Verwesung. Fehrle roch es, obwohl er sich bloß an ein Schwarzweißfoto
erinnerte, das ihnen bei den Ermittlungen vor zwei Jahren zugespielt worden
war.
»Moment.« Er holte tief Luft und spürte sein Pollenasthma.
»Sie wissen, dass ich aus dem Fall Petra Clauss abgezogen worden bin seinerzeit
wegen Befangenheit. Und dass daran neuerlich nicht zu rütteln war. Die
Staatsanwaltschaft hat die Sache abgeschmettert. Man lässt mich da nicht mehr
ran. Selbst wenn das Polizeipräsidium jetzt in die Fahndung einbezogen wird vom
LKA, bin ich draußen.«
»Ja, aber«, meinte Stern.
Fehrle fiel ihm ins Wort. »Die Fahndung nach Hahnke liegt
nicht in meinem Zuständigkeitsbereich, und wenn die Kollegen dessen Flucht zum
Anlass nehmen wollen, den Fall Petra neu aufzurollen: mir recht. Regen Sie das
ruhig an.
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