Totenkuss: Thriller
Terrassentür und ließ den Rollladen herunter.
Ludger hatte stets in seinem Elternhaus gelebt, er hatte
noch nie woanders gewohnt, auch während des Studiums nicht. Wenn er in den
Ferien Abwechslung brauchte, reiste er in die Toskana, in die Gegend, wo Gina
herkam. In einem hügeligen Naturschutzgebiet zwischen Lustignano und Lagoni del
Sasso besaß er ein Häuschen aus Feldstein, das er mit seinen eigenen Händen
wieder aufgebaut hatte. Die Ruine hatte er bei einer Radtour entdeckt. Das
riesengroße Grundstück war billig zu haben gewesen. Darauf standen Olivenbäume,
die von Antonio Santoni, einem ortsansässigen Bauern, geerntet wurden. Dafür
mähte er auch zwei, drei Mal im Jahr die Wiese. Für Ludger blieb immer noch
genug zu tun: Stets gab es etwas auszubessern oder zu ersetzen. Der Generator
spann, die Gasflaschen waren leer, das Dach war undicht und es regnete durch
die Ritzen. Die heftigsten Probleme verursachte der Wassertank. Wenn er einen
Riss hatte, der nicht gleich geflickt wurde, versickerte das ganze Quellwasser.
Seit seiner Scheidung lebte Ludger zurückgezogen und extrem
beständig, wobei er seine Töchter häufig sah und auch regelmäßig nach Italien
mitnahm. Das hatten sie auch jetzt vor, an Pfingsten. Obwohl Lucy inzwischen 13
war und Noé schon 16, fuhren sie immer noch gern mit dem VW-Bus in die Pampa,
um zwei Wochen dort abzuhängen. Sie nahmen eine Kiste Bücher mit, die sie am
Pool verschlangen, machten lange Radtouren und abends aßen sie bei Kerzenschein
Berge von Spaghetti.
Ludgers Leben verlief in geregelten Bahnen. Den einzigen
Ausbruchsversuch aus dieser Gleichförmigkeit hatte er sich vor eineinhalb
Jahren auf seinem PC geleistet. Damals war er auf das Forum einer sogenannten
Selbsthilfegruppe gestoßen und hatte sich zunächst sehr wohlgefühlt unter
Männern, die mit der gleichen Veranlagung zu kämpfen hatten wie er. Dann war er
auf einmal in den Besitz von Kinderpornografie geraten und hatte in Panik mit
der Axt auf seinen Rechner eingedroschen. Noch monatelang lebte er in Angst vor
der Verhaftung, aber keiner klingelte an der Tür, niemand lauerte am Schultor
auf ihn, wenn er die Gebrüder-Grimm-Grundschule am Mittag verließ.
Ludger legte sich in der Unterwäsche ins Bett, löschte die
Lampe und schloss die Augen. Bilder tanzten durch sein Gehirn, von
Drittklässlern, die paarweise, die weiße Kommunionkerze aufgerichtet, zum Altar
schritten. Luca mit ernstem Gesicht in seinem dunkelblauen Anzügle. Der Schein
der Kerze spiegelte sich in seinen Augen, entflammte die Pupillen und der Fraß
der Flammen durchlöcherte sekundenschnell das ganze Gesicht. Ludger schrie auf,
fuhr hoch und blickte in den Strahl einer Taschenlampe.
»Ruhig Blut«, sagte der Einbrecher, der nicht maskiert war.
»Ich tu dir nix.« Er stand am Fuß des Bettes und hatte Ludgers Axt in der Hand.
Offenbar hat er sie aus dem Geräteschuppen geholt, dachte
Ludger, und wie nutzlos solche Gedanken waren. Die Logik eines klaren,
nachvollziehbaren Schlusses war durch die Umstände plötzlich unbrauchbar geworden.
Nichts mehr wert. Ludger hätte fast gelacht. Es ging nicht. Aber er konnte auch
nicht mehr schreien. Er wurde geblendet und blinzelte. Undeutlich erkannte er
die Umrisse des Eindringlings, der eher groß war als klein, eher dünn als dick,
eher jung als alt. Er hatte kurz sein Gesicht gesehen und seine Stimme gehört.
Ein schmales Gesicht. Eine sympathische Stimme, eher tief als hoch, eher warm
als kalt. Der Mann sprach mit schwäbischem Akzent.
»Sie sind zur Terrassentür rein, als ich im Bad war«, stellte
Ludger lapidar fest. Er saß aufrecht im Bett, fixiert von der Taschenlampe und
bedroht mit seiner eigenen Axt. »Ich hab keine Reichtümer hier, aber in meiner
Brieftasche sind 500 Euro, die können Sie haben.«
»Schwätz kein Scheiß.« Der Mann stand da und hob ein wenig
die Axt. »Das ist doch das Ding, mit dem du deinen Rechner malträtiert hast.
Stimmt’s?«
»Ja«, sagte Ludger, der keinen Sinn darin sah zu leugnen.
Alles war im Angesicht seiner Lage sinnlos. Er würde sterben, jetzt, in seinem
Bett. Erschlagen mit seiner eigenen Axt. Das war das blutige Ende. Diese
Erkenntnis traf ihn wie der Blitz. Der Schock jagte ihm das Adrenalin durch die
Adern, er sah seinen Blutkreislauf vor sich wie eine rote Rennbahn.
»Du fragst dich natürlich, woher ich das weiß«, sagte der
Fremde und Ludger hörte ihn lächeln.
Wie kann das
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