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Totenreigen

Totenreigen

Titel: Totenreigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dietmar Lykk
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Sonntag
    1.
    Kriminalhauptkommissar Eric Lüthje stand nach Luft ringend
an der Wendehaltestelle am Hafenvorplatz in Laboe. Die Anstrengung war umsonst.
Er hatte sich wieder in der Abfahrtszeit geirrt. Er entdeckte den Bus ohne
Licht und mit abgestelltem Motor schließlich hinter einem kleinen Ziegelbau,
der Taxizentrale. Der Fahrer war schemenhaft hinter dem Steuer zu erkennen und
aß etwas aus der Hand.
    »Wissen Sie, wann der Bus nach Kiel losfährt?«, fragte er einen
älteren Mann in langem Mantel, der neben ihm stand.
    »Da drüben!«, sagte der Alte mit brüchiger Stimme und wies mit
angedeuteter Bewegung seines Armes zu einem Halteschild, an dem ein Fahrplan
hing. Ein leichtes Zittern ging durch seinen Körper, so als ob der Satz ihn
eine unendliche Anstrengung gekostet hätte. Lüthje versuchte, ihm in die Augen
zu sehen, aber der Mann stand im Lichtschatten der Laterne hinter ihm. Er
wandte sich ab, vielleicht, weil er Lüthjes prüfenden Blick bemerkt hatte.
    Das Halteschild hatte Lüthje nicht gesehen, weil es nicht mehr an
dem ihm gewohnten Platz stand, den er aus seiner Kindheit und Jugend kannte.
Wegen der ungewohnten körperlichen Anstrengung, dem Lauf zur Haltestelle am
Hafen, hatte sein Verstand aufgrund des Sauerstoffmangels nicht mehr richtig
funktioniert. Er hatte einfach etwas zu viel auf den Rippen. Um abzunehmen, wie
Hilly ihm immer wieder predigte, sollte er sich auf Trennkost umstellen, sich
mehr bewegen, und genau das hatte er heute getan.
    Der Mantel des Alten war ein kostspieliges Stück, gut verarbeitet,
altmodisch, sicher jahrzehntealt, mit dem übergroßen Revers, wie man sie noch
in den Sechzigern trug. Am unteren Saum, der knapp über den Schuhen endete,
schien der Stoff feucht zu sein. Der Mantel war zu lang. Wahrscheinlich hatte
er dem Mann vor zwanzig Jahren noch gepasst. Aber man wusste ja, im Alter
schrump fen die Knochen, vor allem die Wirbelsäule.
    Am Morgen hatte es einen fisseligen Landregen gegeben. Aber das war
schon sieben oder acht Stunden her. Der dünne Mantel hätte seitdem schon lange
getrocknet sein müssen.
    Lüthje war gestern Vormittag nach Laboe gekommen, um einige kleine
Reparaturen in seinem an Feriengäste vermieteten Elternhaus zu erledigen. Nach
dem Tod seiner Eltern hatte Lüthje das Haus in zwei kleine Apartments umgebaut.
Im Sommer, und erst recht zur Kieler Woche, war es meist ausgebucht. Die
Schlüsselübergaben und die Abschlussreinigung übernahm Frau Jasch, die bis zum
Tode seines Vaters das Haus sauber gehalten hatte. Die kleinen Reparaturen
erledigte seit damals Lüthje, kümmerte sich zum Beispiel um die tropfenden
Wasserhähne und die Luft in der Heizung, die manchmal auch im Sommer, wenn es
empfindlich kalt war, gebraucht wurde. Ein ziemlicher Zeitaufwand, schließlich
musste er dafür von Flensburg »einfliegen«. Seine Frau Hilly rieb ihm immer
wieder unter die Nase, dass er es ja nicht anders wollte, er hätte das Haus
längst verkaufen können. Sie hatte recht.
    Das Souterrainzimmer, in dem sein Vater seine Radiobasteleien
betrieben hatte, hatte er für sich und Hilly reserviert. Die ehemalige
Waschküche hatte er in eine provisorische Küche und ein Bad umbauen lassen.
    Diesmal war er allein gekommen, hatte seinen Wagen auf dem
Exerzierplatz geparkt und war mit dem Bus gefahren, die »alte Strecke«, an der
seine ehemalige Schule, das Wellingdorfer Gymnasium, lag. Das brennt sich ein,
hatte er zu Hilly gesagt, und sie antwortete, es gebe da wohl noch ein paar
Wunden, die gekühlt werden müssten. Er hatte entgegnet, dass sie ja recht habe,
aber er würde sich in Laboe ohne Auto bewegen und sich ein neues Fahrrad
kaufen. In Laboe gebe es Steigungen, der Buerbarg zum Haus oder vom Ehrenmal
zum Oberdorf. Diese Strecken habe er sich schon vorgenommen. Hilly hatte
gelächelt wie Mona Lisa.
    Der Himmel klarte von Westen her streifig auf, wie eine zerrissene
Tapete auf altgelbem Grund, und reflektierte für ein paar Sekunden das Licht
der längst untergegangenen Sonne auf der Förde. Bevor Lüthje sich dem Anblick
hingeben konnte, war die Dämmerung in der Dunkelheit ertrunken. Es blieben schimmernde
Lichterketten von vorbeifahrenden Schiffen als Trost. Die Kieler Förde machte
sich fein für die Kieler Woche.
    Eine Gruppe weißhaariger Damen versammelte sich auf der Fläche der
stillgelegten Straßenbrückenwaage neben der Haltestelle und genoss juchzend und
kreischend das leichte Schaukeln der großen Metallfläche, auf der zu

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