Totenreise
Dominique sprach in sein Handy. »Mehr nicht.«
»Aber es ist Freitag«, beschwerte sich Mathieu. »Ich habe einen Typen kennengelernt und wir wollten gerade in eine schicke Kellerbar; dort hab ich bestimmt keinen Empfang. Kommt doch lieber auch hierher.«
»Dann warte ein bisschen mit der Bar. Wo bist du im Augenblick?«
»Neben dem ›Amnesie‹.«
»Was ist das?«
»Ein Pub im Marais. «
Das »Amnesie« war nicht weit weg von Jules’ Haus. Dominique nahm kurz das Handy vom Ohr und wandte sich an Daphne: »Sollen wir ihn holen?«, fragte er. »Er ist ganz in der Nähe.«
»Nein! Bist du verrückt! Es ist dunkel draußen und der Vampir sucht uns. Außerdem würde dein Freund viel zu viele Fragen stellen, dafür ist jetzt keine Zeit. Wir rufen ihn an, sobald Pascal sich mit uns erneut in Verbindung setzt.«
Dominique nahm das Telefon wieder ans Ohr.
»Mathieu, bitte, könnt ihr nicht irgendwo etwas trinken, wo du Empfang hast?«
»Was ist denn so dringend, dass es nicht bis morgen warten kann?« Mathieu war schwer zu überreden. »Hey Leute, was ist eigentlich los mit euch, ihr …«
»Ja, es ist dringend«, schnitt ihm Dominique, dem langsam die Geduld ausging, das Wort ab. »Warum sollten wir dich sonst um diese Zeit anrufen? Bitte, es geht vermutlich um etwas aus der Geschichte, das ist dein Thema.«
Einen Moment lang war es still.
»Ihr spinnt doch! Aber okay!«, gab er seufzend nach.
»Danke, Mann. Wir schulden dir was.«
»Und ob. Hör mal, habt ihr was von Michelle gehört? Sie geht nicht an ihr Handy, und im Internat hieß es, sie sei verreist. Es ist komisch, dass sie mir nichts gesagt hat. Außerdem müssen wir bald unser Referat halten …«
»Bestimmt ist sie rechtzeitig wieder zurück, Mathieu. Ich muss jetzt Schluss machen. Also, sorg bitte dafür, dass du erreichbar bist, ja?«
»Geht klar. Ich warte auf euren Anruf.«
***
Die Substanz, die sie während ihrer Zeitreise schützend umgeben hatte, wurde plötzlich dunkel. Kurz darauf wurden Pascal und Beatrice aus der wabernden Hülle wieder ausgespuckt und landeten auf festem Boden. Pascal war, wenn man so wollte, wieder in seiner Welt. Wenn auch zu einer anderen Zeit.
Sie befanden sich in einem einfachen Haus, das aus roh behauenen Steinen und kantigem Holz gebaut war. Es schien gestampfter Lehm zu sein, auf dem sie lagen, und er war völlig verschmutzt. Ein Übelkeit erregender Dunst lag in der Luft; es roch nach Krankheit. Niemand war zu sehen und das Haus schien überstürzt verlassen worden zu sein.
Draußen hörte man Pferdegetrappel und laute Stimmen. Eine Stadt ohne Motoren, dachte Pascal. Wie weit sie wohl in der Zeit zurückgereist waren?
Sie standen auf und klopften sich ein wenig schwindlig und angeekelt von der schmutzstarrenden Umgebung die Kleider ab.
»Versteck deine Waffe«, empfahl Beatrice leise. »Ein bewaffneter Mann wird vielleicht als Bedrohung angesehen.«
Pascal, der sich die Nase zuhielt, nickte wortlos. Dann löste er den Schwertriemen, der quer über seine Brust führte, und zog T-Shirt und Pullover aus. Dann legte er den Riemen wieder um und steckte die Scheide mit dem Schwert in ein Hosenbein.
»So, jetzt kann man es nicht mehr sehen«, bemerkte Pascal.
Beatrice nickte, die leichte Ausbuchtung des Schwerts war unter dem Jeansstoff kaum zu erkennen. Es konnte losgehen.
»Wie es hier stinkt! Und jetzt?« Pascal sah sich um: ein Tisch und ein paar einfache Holzstühle; ein leicht qualmender Kamin, in dem glimmende Holzscheite lagen; ein offener Durchgang, der anscheinend zur Küche führte, denn man konnte Töpfe und andere Küchenutensilien sehen; rechts an der Wand eine Treppe und daneben die Eingangstür aus Holz, die mit einem Querbalken verriegelt war. Pascal schätzte, dass sie mindestens anderthalb Jahrhunderte zurückgereist waren.
»Wir haben vierundzwanzig Stunden, um aus dieser Epoche wieder herauszufinden«, brachte ihm Beatrice noch einmal in Erinnerung. »Es muss eine versteckte Tür sein, sechseckig wie die, durch die wir hierhergekommen sind. Dein Stein wird uns hoffentlich die richtige Richtung zeigen.«
Pascal zog ihn aus seiner Hosentasche und sah, dass er auf einer Seite blinkte.
»Wohin?«, fragte Beatrice.
Pascal zeigte auf die Eingangstür, durch die noch immer Lärm und Stimmengewirr zu hören waren.
»Wir müssen hinaus«, sagte er ein wenig ängstlich angesichts der ersten Begegnung mit Menschen aus einer fremden Zeit.
»Mach dir keine Sorgen«, ermunterte ihn Beatrice
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