Skandalöse Küsse - Scandal Becomes Her
Kapitel 1
D er Albtraum überfiel sie brutal in der Tiefe des traumlosen Schlafes. In der einen Sekunde noch schlummerte Nell friedlich, in der nächsten hielt sie der Albtraum in seinen grässlichen Klauen. Sie trat gegen die Bettdecke, kämpfte darum, den hässlichen Bildern zu entkommen, die ihr durch den Kopf schossen, aber es war vergebens - wie sie es schon aus anderen furchtbaren Nächten kannte.
Wieder war sie hilfloser Zuschauer der scheußlichen Taten, die nun folgten. Der Schauplatz war der gleiche: ein düsterer Ort, vermutlich ein halb vergessener Kerker unter den Mauern eines alten Herrensitzes. Die Wände und der Boden bestanden aus massiven, handbehauenen und verrußten grauen Steinen … das flackernde Licht der Kerzen fiel auf Folterwerkzeuge einer früheren, gewaltsameren Zeit der englischen Geschichte - Geräte, die er benutzte, wenn es ihm genehm war.
Das Opfer heute Nacht - wie schon bei früheren Gelegenheiten - war eine Frau - jung, hübsch und verängstigt. Ihre blauen Augen waren weit aufgerissen und verrieten namenlose Furcht - eine Furcht, die ihrem Peiniger zu gefallen schien. Das Kerzenlicht beleuchtete stets nur die Gesichter der Frauen, der Mann blieb im Schatten, seine Züge und seine Gestalt waren nie klar zu erkennen. Aber alles, was er dem zuckenden Fleisch der jungen Frau immer wieder antat, war für Nell entsetzlich deutlich zu sehen. Und am Ende,
wenn er den Schreckensakt vollbracht hatte, den Leichnam genommen und in das alte Abflussloch im Kerker geworfen hatte, verblasste das Licht allmählich, und Nell war endlich in der Lage, sich aus dem Albtraum zu befreien.
Heute Nacht war es nicht anders. Von den abstoßenden Bildern endlich erlöst, fuhr Nell auf, einen erstickten Schrei in der Kehle, ihre grünen Augen groß und glänzend von unvergossenen Tränen und der Erinnerung an das Entsetzen. Sie schluckte den Schrei hinunter und schaute sich um; Erleichterung erfasste sie, als sie merkte, dass es wirklich nur ein Albtraum gewesen war. Dass sie sich sicher und geborgen im Stadthaus ihres Vaters befand; die Umrisse der Möbel im Zimmer waren im schwachen Schein des glimmenden Feuers im Kamin und dem ersten Tageslicht, das sich durch die schweren Samtvorhänge stahl, vage zu erkennen. Hinter den Fenstern erklang die vertraute Geräuschkulisse Londons: das Hufgeklapper von Pferden auf dem Kopfsteinpflaster und das Rattern der Räder von Wagen, Karren und Kutschen, vor die die Tiere gespannt waren. In der Ferne konnte sie die Rufe der Straßenverkäufer ausmachen, die schon begonnen hatten, ihre verschiedenen Waren anzupreisen - Besen, Milch, Gemüse und Blumen.
Ein Schauer durchlief sie. Oh Gott , dachte sie und vergrub ihr Gesicht in den zitternden Händen, werden die Albträume denn niemals aufhören? Dass sie nur selten auftraten, war das Einzige, was sie davon abhielt, den Verstand zu verlieren - niemand, davon war sie überzeugt, konnte geistig gesund bleiben, solange er gezwungen war, Nacht für Nacht Zeuge solcher Gewalt zu werden.
Sie holte tief Luft und strich sich eine Strähne ihres schweren dunkelblonden Haares zurück, die ihr auf die Brust gefallen war. Sie beugte sich vor und tastete nach dem Krug
Wasser, den ihre Zofe auf den kleinen Marmortisch neben ihrem Bett gestellt hatte. Ihre Finger stießen dagegen und dann gegen das kleine Glas daneben; sie goss sich ein und trank gierig.
Allmählich fühlte sie sich besser; sie setzte sich auf ihre Bettkante und starrte in das Dämmerlicht, versuchte ihre Gedanken zu ordnen, aus dem Wissen Trost zu schöpfen, dass sie in Sicherheit war … anders als das arme Geschöpf in ihrem Albtraum. Mit einiger Mühe riss sie ihre Gedanken aus dieser Richtung zurück. Schließlich, so mahnte sie sich, war es nur ein Albtraum. Ein schrecklicher Albtraum, aber eben nicht Wirklichkeit.
Nell, oder genauer, Eleanor Anslowe, hatte in ihrer Kindheit nie unter Albträumen gelitten. Keine bösen Träume hatten ihren Schlaf gestört bis zu dem tragischen Unfall, der sie fast das Leben gekostet hatte, als sie beinahe neunzehn war.
Es war seltsam, überlegte sie, wie herrlich ihr Leben vor der Tragödie gewesen war, und wie sehr sich das in den Monaten geändert hatte, nachdem sie dem Tode so nahe gekommen war. Im Frühling jenes grässlichen Jahres hatte sie ihre triumphale Londoner Saison erlebt, gekrönt von der Verlobung mit dem Erben eines Herzogs.
Nells Lippen verzogen sich. Nachdem sie im letzten September ihren
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